Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
welches historisch überhaupt nicht verbrieft ist, zweifelsohne Personen dargestellt und beschrieben wurden, denen ich in meiner beruflichen Karriere schon mehrmals begegnet sein könnte.
Es fanden sich Personen, die darüber nachdachten, das perfekte Verbrechen zu begehen. Es fanden sich Leute, die nicht nur manipulative Fähigkeiten besaßen, sondern deren Sprache ihr hauptsächliches Werkzeug war, andere Menschen so weit zu treiben, dass sie Handlungen begingen, die sie gar nicht begehen wollten. Ich entnahm der Literatur, dass all diese scheinbar so klaren Motive wie Hass, Rache, Wut von einem Mann wie Friedrich Schiller nicht nur in ihrer Wirkung, sondern auch in ihrer Ursache beschrieben wurden. Schiller stattete seine Protagonisten mehr oder minder mit dem verbalen Hauch des Todes aus. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Nun musste ich auch „den Dreckskerl der Literatur“ lesen: „Richard III.“ Eine absolute Qual!
Shakespeare lässt den Herzog von Gloucester, nachmals König Richard III., mit den Worten auftreten: „Nun ward der Winter unseres Missvergnügens glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks.“
Derart verdrehte, in ihrem Inhalt mehrere Interpretationen zulassende Sätze ziehen sich über Hunderte von Seiten. Die Verwandtschaftsverhältnisse in dem Stück – das war mir relativ rasch klar – konnten nur von einem Historiker, der die englische Geschichte vom 11. Jahrhundert aufwärts bis zu den heutigen Ausläufern des Adelsgeschlechts der Tudors in- und auswendig kannte, verstanden werden oder von einem Theaterfreak und/oder Wissenschaftler, der es sich in den letzten 15 Jahren zum Vorsatz gemacht hatte, sich sämtliche Königsdramen von Shakespeare in allen denkbaren Inszenierungen auf allen Bühnen zwischen Zürich und Hamburg und von Wien bis Düsseldorf einzuverleiben. Und trotzdem ergab diese qualvolle Literatur noch etwas anderes.
Hier war offensichtlich ein Meister der Psychologie am Werk gewesen. Querverweise und zusätzliche Literaturangaben über tatsächliche historische Abläufe bestätigten, dass viele Handlungsstränge, die in „Richard III.“ beschrieben wurden, überhaupt nie stattgefunden hatten. Aber gerade diese Abläufe verwendete der Autor William Shakespeare dazu, den Personen Fähigkeiten zuzuschreiben, die über das normale Maß einer Verbrecherkarriere weit hinausgingen. Gerade den Herzog von Gloucester, der es bei aller Perfidie im Laufe der Zeit dazu brachte, dass ihn andere förmlich darum baten, endlich König von England zu werden, obwohl ihm dieser Titel überhaupt nicht zustand, stattete Shakespeare mit der Fähigkeit aus, Vertrauensverhältnisse zu missbrauchen, hochkomplexe manipulatorische Fähigkeiten benützend, um andere Menschen so weit zu bringen, dass sie sich selbst in jene tödlichen Gefahrenzonen hineinmanövrierten, die ich nur von den planendsten Serienmördern kannte, die ich im Laufe meiner beruflichen Karriere interviewt und näher kennengelernt hatte.
Shakespeare beschrieb in seinem Königsdrama eine vollkommen frei erfundene Werbungsszene, bei der der Herzog von Gloucester um die Hand von Anna Neville anhält, obwohl er selbst ihren Ehegatten und ihren Schwiegervater umgebracht hat. Er stattete Gloucester mit der schärfsten intellektuellen Waffe der Antizipation aus und stellte diese Fähigkeit literarisch blendend zur Schau, indem er einen vermeintlich Untreuen so weit brachte, dass dieser ihm selbst die Gelegenheit gab, ihn zu köpfen – nicht nachvollziehbar und scheinbar fern jeglicher Realität!
„Es gibt Menschen, die in Erfahrungswelten leben, die wir nicht betreten können.“
Sowohl bei Schiller als auch bei Shakespeare finden sich Dutzende kleine Passagen, dargestellte Persönlichkeiten, in beschriebenen Handlungsabläufen konkrete Hinweise, die sich in geradezu grotesker Parallelität in Kriminalfällen wiederfanden, welche ich selbst in den letzten 15 Jahren aus kriminalpsychologischer Sicht bearbeitet hatte.
Die Idee, klassische Stücke der Theaterliteratur aus kriminalpsychologischer Sicht zu betrachten, neu zu inszenieren und auf die Bühne zu bringen, mag aus dramaturgischer Sicht brillant gewesen sein. Ehre, wem Ehre gebührt: Jochen Herdieckerhoff. Der Anregung sei Dank, denn dieser Umstand führte auch dazu, dass wir einen neuen Anlauf unternahmen, um die wissenschaftliche Betrachtungsweise von komplexen Verbrechen neu zu ordnen. Die Geschichte, dass Franz Moor, sein Bruder Karl und all die anderen Kumpane
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