Bestie Mensch: Tarnung - Lüge - Strategie (German Edition)
irgendwann in den böhmischen Wäldern – laut Friedrich Schiller – eine Räuberbande gründeten, um mordend, raubend und brandschatzend durch die Gegend zu ziehen, war ja frei erfunden. Trotzdem waren sowohl Schiller als auch Shakespeare in der Lage, ihren Protagonisten die höchst seltenen Fähigkeiten einzuhauchen, die wir in realen Fällen bei jenen kennen, die diese Verbrechen tatsächlich begangen haben. Friedrich Schiller und noch viel mehr William Shakespeare mussten daher Wissen über diese Fähigkeiten gehabt haben. Vielleicht besaßen sie sogar die Fähigkeiten selbst und waren trotzdem nicht zu Serienmördern geworden. Warum?
Dieser Gedanke faszinierte mich und ich brachte ihn in die alljährliche Sitzung der Amerikanischen Akademie für forensische Wissenschaften mit. Dort diskutierte ich diesen Umstand mit den weltbesten Verbrechensanalytikern. Leute, die sich seit vielen Jahren immer wiederkehrend mit der Frage beschäftigten, warum manche Personen so weit kamen, dass sie fern jeglicher Vernunft und Nachvollziehbarkeit Dutzende Sexualverbrechen oder Morde begingen, aber auch nur deshalb, weil sie offensichtlich ganz bestimmte Fähigkeiten mitbrachten, um diese Verbrechen überhaupt begehen zu können. All die Mitglieder, Psychologen, Psychiater, Humangenetiker versuchten immer wieder die Antwort auf die Frage nach dem Warum dort zu finden, wo sie allgegenwärtig war, nämlich bei jenen Menschen, welche die Verbrechen begangen hatten. Nun aber gab es einen neuen Ansatz.
Warum sollten wir die Antwort nicht dort suchen, bei jenen, die sie nicht begangen hatten? Schiller schuf in seinen Handlungsabläufen Personen und Vorgangsweisen, die es nie gegeben hat. Er besaß zweifelsohne die gleiche Fähigkeit wie jemand, der komplexe Vergewaltigungen oder Tötungsdelikte begangen hatte. Die Geschichte lehrt uns aber auch, dass Schiller sehr viel aus dem Königsdrama „Richard III.“ von William Shakespeare übernommen und teilweise sogar abgeschrieben hat. In seinem Stück verwendete Shakespeare Figuren und Personen, die es historisch zwar gab, aber teilweise erschuf er neue Handlungsstränge und Dialoge, die frei erfunden waren; gerade in diesen zeigte Shakespeare seine wahren Fähigkeiten, Personen mit einer hochkomplexen Psychopathologie auszustatten. Diese Protagonisten, aber auch die intellektuellen Waffen der verbalen Manipulation und Antizipation so zu schärfen, dass sie mit jedem geplanten Verbrechen des 20. und 21. Jahrhunderts mithalten konnten, das war eine andere Sache. Shakespeare besaß offensichtlich mehr kriminalpsychologisches Wissen, als noch vor 50 Jahren unserer Meinung nach überhaupt existierte. Er lässt in der bereits zitierten Werbungsszene, bei welcher der Herzog von Gloucester um die Hand von Anna Neville anhält, die Frau daran zerbrechen, weil er weiß, dass man einen Menschen in einer Belastungssituation nur so lange zu provozieren braucht, bis er die Tarnung der Bestie als Engelsgesicht missinterpretiert.
42.
Anfang der 90er-Jahre herrschte Aufregung im Rotlichtmilieu von Wien. Jede Woche verschwand eine andere Prostituierte. Die Zuhälter notierten sich die Fahrzeugkennzeichen der Freier und die Damen achteten gegenseitig auf ihre Sicherheit. In all dieser Aufregung tauchte ein etwa 40-jähriger Journalist auf, der – mit einem Mikrofon ausgestattet – die Prostituierten interviewte. Er stellte ihnen die Frage, ob sie nicht Angst hätten, hier zu stehen, ob es nicht sein konnte, dass der Nächste, der mit ihnen sprach, der gesuchte Serienmörder war. Der Name dieses Journalisten war Jack Unterweger – übrigens jener Mann, der später von der Staatsanwaltschaft Graz angeklagt wurde, insgesamt elf Prostituierte auf zwei verschiedenen Kontinenten in drei Ländern umgebracht zu haben, darunter auch vier Prostituierte im Wiener Rotlichtmilieu. Unterweger interviewte auch (unter dem Deckmantel der Legalität mit dem Mikrofon des Österreichischen Rundfunks ausgestattet) den Chef der größten kriminalpolizeilichen Dienststelle Österreichs, der in all diesen Fällen der ermordeten Prostituierten ermittelte, und befragte ihn, ob er nicht neue Spuren hätte.
Macht! Macht darüber zu besitzen, andere Menschen in einer Belastungssituation so lange zu provozieren, bis sie daran zerbrechen.
Plötzlich diskutierten Mitglieder der Amerikanischen Akademie für forensische Wissenschaften, die sich aus Rechtsmedizinern, Spezialisten für gefälschte Dokumente, Toxikologen und
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