Bestimmt fuer dich
Helfer«-Sweatshirt landete auf dem Boden. Als Nächstes zog Rosanna die blauen Jogginghosen herunter. Die mit Gummizügen verengten Säume der Hosen hafteten störrisch an ihren Knöcheln. Sie blickte an ihrem hässlich aufgeplatzten Kleid hinab. Als sie es am Tag nach der Scheidung gekauft hatte, war sie dünner gewesen. Noch immer hatte sie eine gute Figur, und die konnte unmöglich schuld daran gewesen sein, dass sie vor Lars und Carolin aus allen Nähten geplatzt war. Rosanna tippte eher auf Materialermüdung infolge wiederholten Waschens in der unzuverlässigen Gemeinschaftswaschmaschine des Hauses. Schließlich hatte sie das Kleid in den letzten Jahren sehr oft getragen, immer, wenn sie besonders gut aussehen wollte. Jetzt sah es aus, als hätte sie darin den Angriff eines Grizz lybären überstanden. Schweren Herzens pellte sie die Reste des Kleids von ihrem Körper und stapfte damit in die Küche, um es in den Mülleimer zu werfen.
Als Kind hatte sie bestimmten Kleidungsstücken eine geradezu magische Wirkung zuerkannt. Ein geringelter Schal, den sie eigentlich gar nicht an sich mochte, hatte sich als Garant für gute Klassenarbeiten erwiesen. Ein bestimmter Pulli schien ihr Glück zu bringen, wenn sie mit Jungen flirtete. Allerdings hatte es auch eine Cordhose gegeben, die Rosanna so selten wie möglich trug, weil sie glaubte, darin immer einen Schnupfen zu bekommen.
Das Kleid, das heute zerfleddert worden war, hatte Rosanna nicht nur das Gefühl von Schönheit, sondern auch von Unabhängigkeit verliehen. Beides hatte sich vor wenigen Stunden als Trugschluss erwiesen. Und obwohl Rosanna längst nicht mehr an die geheimnisvolle Kraft von Kleidungsstücken und anderen Talismanen glaubte, fühlte sie sich den noch enttäuscht.
Vielleicht war es aber auch gut so. Hatte sie Lukas nicht auf die Nase gebunden, sie würde sich nicht mehr in übersinnlichen Unsinn flüchten, so wie er? Das Versagen ihres Lieblingskleids war vermutlich eine letzte Station auf ihrem Weg zur Befreiung von all dem Aberglauben, dem sie in ihrem bisherigen Leben trotz wiederholter Auflehnungsversuche verfallen war.
Rosanna knüllte den Stoff zusammen und hielt ihn über den Mülleimer. Sie musste ihn nur noch hineinfallen lassen.
Aber war das nicht genauso übertrieben? So ruiniert sah das Kleid gar nicht aus, noch konnte man es bestimmt wieder in Ordnung bringen. Und war es nicht viel eher ein Zeichen von Reife, wenn sie dieses Kleid behielt?
Rosanna sank auf einen Stuhl. Das zusammengeknüllte Kleid hielt sie immer noch in den Händen. Sie erinnerte sich daran, es auch oft getragen zu haben, wenn sie ihrer Schwester bei einer Predigt zugehört hatte, absichtlich aus der letzten Reihe, damit Maren sie nicht oder zumindest nicht sofort sehen konnte. Am Ende der Predigt hatte Rosanna die Kirche stets schnell verlassen. Ab und zu war Maren ihr trotzdem nachgeeilt, und sie hatten ein paar belanglose Worte gewechselt.
Dass es Rosanna und Maren nicht geschafft hatten, wenigstens als Erwachsene wieder mehr Nähe zueinander aufzubauen, hätten sie beide nicht erklären können. Tatsächlich lag es daran, dass sie nie gelernt hatten, einander wirklich zuzuhören. Ihr Altersunterschied und der frühe Tod ihrer Mutter hatte dafür gesorgt, dass Maren ihre jüngere Schwester fast wie ein eigenes Kind betrachtete. Rosanna hingegen hatte die Mütterlichkeit Marens abgelehnt und war umso frustrierter gewesen, je mehr Maren und auch ihr Vater sie wie ein kleines Mädchen behandelten. Dabei hatte Rosanna wie viele Kinder, die nur mit einem Elternteil aufwachsen, ein überdurchschnittliches Verantwortungsgefühl entwickelt – und leider auch größere Ängste und Zweifel, denen sie irgendwie Herr zu werden versuchte, indem sie zu viel nachdachte und sich zuweilen in irrwitzigen Erklärungsansätzen verlor.
Dass der Blitz sie getroffen hatte, war für Rosanna tatsächlich ein Zeichen gewesen. Nicht aber für einen rachsüchtigen und überheblichen Gott, sondern für die Sinnlosigkeit jener zwanghaften und vermutlich unvermeidbaren Suche des Menschen nach Zusammenhängen, die es nicht gab. Einer Zwölfjährigen traute man solche Überlegungen allerdings nicht zu. Ihre Schwester und ihr Vater hatten sie nur auf Angst und Orientierungslosigkeit reduziert und es deshalb für das Beste gehalten, beidem die Grundlage zu entziehen. Aber die absolute Gewissheit, die sie Rosannas Zweifeln entgegen setzten, konnte diese natürlich nicht beseitigen –
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