BETA (German Edition)
entkommen. Das hier oben ist echt. Voll das echte Leben.«
Aus dieser Höhe habe ich einen viel weiteren Blick als jemals zuvor auf den violetten Wasserring, der Demesne umgibt, und jenseits dieses Ringes auf die Monsterwellen mit ihren weißen Schaumkronen, die überall nur die Giganten heißen und von so weit oben harmlos und ungefährlich wirken. Das erste Mal sehe ich die unfassbare Weite des Ozeans, des wirklichen Ozeans jenseits des Meeres von Ion. Ich beobachte die heranrollenden Wogen, ihr mächtiges Auf und Ab, und begreife plötzlich, welche unermessliche Kraft die Natur hat. Ivan und ich wirken so klein und unbedeutend, verglichen mit der Unendlichkeit des Ozeans. Hinter den Giganten kann ich die kleineren, unbewohnten Inseln erkennen, die zum selben Archipel wie Demesne gehören. Sie sind umgeben von einladenden weißen Sandstränden, doch das Inselinnere ist von Gestrüpp und Dschungel überwuchert. Ich glaube, ich kann verstehen, warum es auf diesen Inseln so wild und gesetzlos zugeht.
Dann blicke ich zum Nichts hinter den Inseln. Das Wasser erstreckt sich dort, so weit das Auge reicht. Tausend Meilen entfernt, zu weit, als dass ich ihn noch sehen könnte und für mich vollkommen unerreichbar, befindet sich der Küstenstrich, mit dem das Mainland an den Ozean grenzt. Von dorther muss sie gekommen sein.
Ob er sie denn nicht vermisst, der sonnengebräunte Gott, dessen Herz ihr gehörte und der ihr ihres gebrochen hat?
»Fortesquieu-Anwesen vor uns«, sagt Ivans Stimme in meinem Helm. »Vorbereitung zur Landung.« Ich ziehe an den Leinen, wie mein Chip es mir befiehlt. Ivan und ich starten einen langsamen Sinkflug, mit dem wir uns unserem Landeplatz an der Küste von Demesne nähern.
Wumm. Meine Füße treffen auf dem Boden auf, und ich laufe ein Stück über den Sand, um den Stoß abzufedern.
Wumm wumm wumm. Ivan landet hinter mir, trifft härter und ungeschickter auf. Er versucht ebenfalls weiterzulaufen, doch die Leinen seines Gleitschirms verheddern sich und wickeln sich um ihn herum, er stürzt. Als er aufsteht, hustet er und hat sich völlig verstrickt, aber er verzieht das Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Cooler Flug!«, keucht er.
»Warum musst du husten?«, frage ich.
»Geht den Leuten so, die hier aufgewachsen sind. Wir sind so an die reine Luft von Demesne gewöhnt, dass unsere Lungen einen Augenblick zu viel kriegen, wenn wir in die andere und auch noch so viel dünnere Luft aufsteigen und dann plötzlich wieder herunterkommen. Wahrscheinlich sollte ich einen solchen Flug öfter machen, als Vorbereitung für mein Trainingslager auf der Base.« Er hustet wieder, diesmal heftiger und lauter.
Jemand kommt den Strand entlangspaziert, direkt auf Ivan zu, und klopft ihm von hinten auf die Schulter. Ivan dreht sich um. »Tahir!«, ruft er. Ivan und die einsame Gestalt namens Tahir machen miteinander das typische Abklatsch-Ding von Jungs, die gerne »Boah, ey!« brül-len.
Tahir ist groß, mit mokkafarbener Haut und haselnussbraunen Augen, die von vollen schwarzen Wimpern umrahmt werden. Seine Lippen sind korallenrot und so perfekt geschwungen, dass sie fast weiblich wirken – für Küsse sind sie mit Sicherheit wie geschaffen. Seine schwarzen Haare sind zur Hälfte zu Zöpfen geflochten, die an Stirn und Schläfen beginnen und dann bis zur Mitte seines Kopfes reichen; danach fallen ihm die Haare ganz natürlich, wild und lockig auf die Schultern. Wie bei seinem Cousin Farzad sind bei ihm über seinen Surfershorts unglaublich durchtrainierte Bauchmuskeln zu erkennen, seine Brust jedoch ist, anders als bei Farzad, unbehaart.
Tahir mustert mich neugierig von Kopf bis Fuß, vor allem die Tätowierungen auf meinen Schläfen. Dann sieht er mir aufmerksam in die Augen. In meine fuchsiaroten Klonaugen. Meine Haut kribbelt, als unsere Blicke sich treffen, was am Flug mit dem Gleitschirm liegen muss. Er schaut mir lang und tief in die Augen, statt schnell wieder wegzublicken wie die meisten Menschen, als wolle er erforschen, ob hinter meinen gläsernen Augen nicht doch etwas anderes als nur eine seelenlose Leere steckt.
»Ja, stell dir vor, sie bauen jetzt sogar Teenager. Sie ist noch ein Beta-Modell, funktioniert aber prächtig. Unglaublich, was? Sie heißt Elysia. Willkommen zu Hause, Kumpel. Wie schön, dass du wieder da bist«, sagt Ivan, der sich endlich aus seinem Gleitschirm befreit hat.
Tahir antwortet Ivan nicht. Er streckt die Hand aus, um meinen Ellenbogen zu berühren, und
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