Betörend wie der Duft der Lilien
doch nur wahr wäre! Calliope fielen ihre alten Tagträume wieder ein, in denen er der Mann war, der sie verstand und ihre Visionen teilte. „Wie das, Lord Westwood?“
Statt ihr zu sagen, was sie so gerne gehört hätte – wie sie zueinanderfinden und doch noch Freunde werden konnten –, lächelte er nur. „Meinen Sie, es Ihnen wäre möglich, mich ab und zu einfach Cameron zu nennen? Ich glaube immer noch, mein seliger Vater wäre gemeint, wenn ich ‚Lord Westwood‘ höre.“
„Ich weiß nicht …“ Cameron. Wie ungezwungen das klang. Wie verlockend.
„Bitte! Hier hört uns doch niemand außer unserer Löwenfreundin. Und die kann schweigen. Sie mag Geheimnisse.“
Tatsächlich lag jetzt ein zufriedener Schimmer in den Obsidianaugen der Figur, als genieße sie die Gesellschaft. „Meinen Sie nicht, dass sie schon genug Heimlichtuerei erdulden musste? In diesem Haus spielt sich sicher viel Rätselhaftes ab.“
„Zweifellos. Aber eine Gefangene des Dukes ist unsere natürliche Verbündete. Sie möchte, dass wir uns gut verstehen.“
„Na gut. Ich denke, ich kann Sie Cameron nennen, solange nur leblose Objekte in der Nähe sind.“
„Scht!“ Er hielt seine Hände über die Steinohren. „Wissen Sie nicht mehr? Sie ist nicht leblos, sie schläft nur.“
„Wann wird sie erwachen? Wenn sie wieder Sonnenlicht spürt?“ Calliope erinnerte sich an Lady Tenbrays etruskisches Diadem, das ebenfalls fern der Heimat im ewigen Schatten gelegen hatte. „Und werden Sie derjenige sein, der sie befreit … Cameron?“
Er schätzte die Löwin mit Blicken ab. „Trauen Sie mir solche Kraft zu, Miss Chase … Calliope?“, fragte er und spannte spielerisch seine durchaus beeindruckenden Armmuskeln an. „Ich bin nicht Herkules, sondern nur Hermes. Flügelsandalen hin oder her, die Löwin ist zu schwer für mich. Aber eines Tages wird jemand kommen und sie hier fortbringen. In die Freiheit.“
„Zurück in ihre Heimat?“
Er hob die Schultern. „Irgendwohin, wo sie sicher ist. Hier ist meiner Meinung nach nichts und niemand sicher.“
„Clio …“
„Ja, wir sollten weitersuchen.“
Er bot ihr den Arm, und gemeinsam drangen sie zu einer geschwungenen Treppe vor. Calliope warf einen letzten Blick zurück auf die unerschütterliche Löwin, reglos bis auf das verschwörerische Glitzern in ihren Augen.
„Die Alabastergöttin ist da oben“, sagte Cameron.
Calliope sah nur eine massive Holztür, die einen Spalt offen stand, und noch mehr gespenstische Schatten. „Woher wissen Sie das?“
„Immer noch so skeptisch! Ich habe meine Quellen. Wollen Sie es nun wissen oder nicht, Athene?“
Er reichte ihr die Hand, und Calliope griff danach wie nach einer Rettungsleine in stürmischer See. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf und schoben langsam die Tür auf.
Dahinter lag nicht die Unterwelt, sondern eine lange, schmale Galerie. Hohe Fenster ließen das Mondlicht hinein, das sich mit dem sanften Kerzenschein vermischte und weitere Antiquitäten beschien, Statuen, Stelen und Sarkophage. Calliope musste blinzeln.
Neben ihr erstarrte Cameron, und ein leiser Fluch kam ihm über die Lippen.
„Was …?“, setzte Calliope an, doch dann sah sie es auch.
Die Alabastergöttin, das Prunkstück in der Sammlung des Duke of Averton, lag rücklings auf dem Boden, sodass ihr Bogen auf die Intarsiendecke zielte. Ihr strahlender Alabasterleib, der auf zerknülltem schwarzem Satin lag, schien unversehrt zu sein, aber ihr hölzerner Sockel war zersplittert.
Neben ihr lag der Duke.
Cameron stürzte voran, Calliope folgte dichtauf. Im blonden Haar des Herzogs hatte sich eine dunkle Flüssigkeit ausgebreitet. Seine Augen waren geschlossen, die Haut wirkte so bleich wie die Alabasterstatue. Die kühle, staubige Luft roch nach Kupfer: Blut!
„Ist er tot?“, flüsterte Calliope.
Cameron kniete sich hin und tastete an seinem entblößten Hals nach einer Schlagader. „Nein, aber sein Puls ist schwach. Sehen Sie.“ Er wies auf die klaffende Wunde auf der Stirn des Duke. „Die Form passt genau zu Artemis’ Ellbogen.“
Tatsächlich war der Arm der Statue mit bereits getrocknetem rostfarbenem Blut verschmiert. „Er muss schon eine Weile hier liegen. Glauben Sie, dass die Statue auf ihn gefallen ist?“
„Vielleicht ist der Sockel zerbrochen, während er sich an ihrem Anblick weidete. Das wäre so etwas wie kosmische Gerechtigkeit.“
„Oder …“ Eine aufwallende Übelkeit unterdrückend, beugte Calliope sich vor.
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