Betörend wie der Duft der Lilien
zehn, und alle von dieser Art. Ich hätte nicht gedacht, dass der Duke der Typ für eine Geheimgesellschaft ist; er wirkt so eigenbrötlerisch. Aber nachdem ich sein schauerliches Haus gesehen habe, halte ich alles für möglich. Für wen könnten die Spitznamen stehen?“
Calliope fuhr mit dem Finger über die Liste. „Karl der Große. Der goldene Falke. Keine Ahnung, aber es muss sehr wichtig sein, wenn er das im Sockel der Alabastergöttin versteckt hat … Oh, Clio! Ist der Duke womöglich der Liliendieb?“
Cameron spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und hoffte, dass das eisige Nass ihn endlich aus dem seltsamen Traum reißen würde, in dem er sich schon den ganzen Abend wähnte. Aber es funktionierte nicht: Als er die Augen wieder aufschlug und sein feuchtes Haar zurückstrich, hing sein zerknittertes Hermeskostüm immer noch auf der Stuhllehne, und seine abgespannte Miene im Spiegel sprach ebenfalls Bände.
Auf seinen Reisen nach Griechenland waren seine Gefährten und er ab und zu von Banditen oder Rebellen gejagt worden; sie waren über Stock und Stein gesprungen, um den pfeifenden Kugeln zu entkommen. Das war zweifellos gefährlich gewesen, aber zugleich aufregend. Lebensbejahend. Knapp dem Tod entronnen, pflegten sie am Lagerfeuer bis zum Sonnenaufgang zu trinken und zu singen, bevor sie weiterzogen.
Warum fühlte er sich dann jetzt so ausgelaugt? So … leer? Vielleicht weil Banditen und Kugeln trotz allem etwas Ehrenhaftes an sich hatten, im Unterschied zu den heutigen Vorgängen in Avertons Haus? Das hier war genau die Art von düsteren, verderblichen Rätseln, die er nicht mochte.
Hätte er Averton sterben lassen, wenn Calliopes dunkle Augen nicht jeden seiner Schritte beobachtet hätten? Die Versuchung war groß gewesen; für die Menschheit wäre der Verlust dieses Mannes leicht zu verschmerzen gewesen. Aber er hatte es nicht über sich gebracht. Er konnte einen Menschen nicht dem Tode überantworten, selbst wenn er ihn verabscheute. War er so schwach? Warum wollte er vor Calliope den edelmütigen Helden spielen und seine Makel verbergen?
Durch das Fenster drang zaghaft das erste Tageslicht, grau und rosa. Cameron schüttelte sich das Wasser aus dem Gesicht und griff nach seinem Morgenmantel, dessen Samt warm und weich über seinen nackten, ausgekühlten Leib strich. Er hatte keine Zeit für Zweifel oder quälende Selbstbetrachtungen; darin war er ohnehin noch nie gut gewesen. Jetzt galt es zu handeln: herauszufinden, was sich in dieser Nacht tatsächlich abgespielt hatte. Jemand hatte den Duke zu töten versucht. Vielleicht hatte derjenige eigentlich vorgehabt, die Alabastergöttin zu stehlen.
Averton selbst führte ebenfalls etwas im Schilde. Was hatte er mit Clio Chase vor? Was hatte sie mit den Ereignissen der letzten Nacht zu tun? Was trieb die Chase-Schwestern um?
Cameron ging ans Fenster und sah auf die Straße hinunter, die gerade zum Leben erwachte. Milchmädchen und Gemüsehändler eilten geschäftig vorbei, nebenan schrubbte eine Bedienstete die weißen Stufen vor der Haustür. Sie gähnte bei der Arbeit, doch Cameron war plötzlich hellwach. Seine Erschöpfung war schlagartig von ihm abgefallen.
Etwas war zwischen Calliope Chase und ihm vorgefallen, während sie sich in diesen dunklen, modrig riechenden Räumen umgesehen hatten. Gewiss, er hatte sie immer schon schön gefunden, und auch intelligent und selbstbewusst, wie nur eine wirklich kluge Person es sein konnte. Aber auch zum Verrücktwerden trotzig!
Letzte Nacht hatte sich eine neue Verbindung aufgetan, ein Funke war übergesprungen, der ihn trotz aller Bedenken beglückte. Er würde herausfinden, was mit ihr los war, mit dieser ernsten Athene, die so viel vor ihm verbarg. Es würde nicht leicht werden, ihr Zutrauen zu gewinnen; vermutlich würde es sogar schwieriger als alles andere, was er je versucht hatte. Aber in der kleinen Welt der Antiquitätensammler und in der noch kleineren Welt der Familie Chase ging etwas vor sich, dem er auf den Grund gehen musste.
Selbst wenn er dazu viel Zeit mit Calliope Chase verbringen musste. Nicht, dass ihn diese Aussicht sonderlich schreckte: Er erinnerte sich nur zu gern an ihre weißen Schultern und die Art, wie das dünne Athenekostüm sich an ihren Leib geschmiegt hatte. Aber in erster Linie musste dieses Rätsel gelöst werden, bevor noch weitere Kunstwerke von der Bildfläche verschwanden.
Und er war der richtige Mann für diese Aufgabe.
10. KAPITEL
Calliope knotete die
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