Betörend wie der Duft der Lilien
Zitternd wies sie auf die Hand des Dukes. In der geballten Faust steckte ein Fetzen grün-goldener Seide, und halb unter seinem Arm verborgen lagen ein paar grüne schimmernde Glasperlen.
„Was ist das?“, fragte Cameron angespannt.
„Clio“, seufzte Calliope. „Das stammt von ihrem Kostüm.“
Cameron richtete sich auf und starrte ins Halbdunkel. Calliope ließ jede Vorsicht fahren und stürzte hinter die Marmorsäule, von der die Statue herabgefallen war. „Clio!“, rief sie. „Clio, wo bist du?“
„Still.“ Cameron ergriff ihre Hand. „Was, wenn der Täter immer noch in der Nähe ist? Oder wenn Ihre Schwester selbst …?“
„Nein! Clio könnte so etwas nicht … es sei denn, sie wäre dazu gezwungen. Sie haben die beiden doch im Museum gesehen. Wir müssen sie finden.“
„Das werden wir. Aber zuerst müssen wir uns um den Duke kümmern.“
Calliope blickte auf den Mann hinab, der ohnmächtig am Boden lag. „Sie möchten ihm helfen? Obwohl Sie ihn verabscheuen?“
Er lachte bitter auf. „Wir könnten ihn einfach hier sterben lassen, niedergestreckt von seiner berühmten Alabastergöttin. Aber dafür würde ich mich selbst noch mehr verabscheuen als ihn. Wenn ich Sie einen Augenblick allein lassen darf, laufe ich schnell in den Ballsaal und hole Hilfe. Es wird nicht lange dauern, versprochen.“
Calliope atmete tief ein. „Gut. Ich bleibe hier.“
Er sah ihr in die Augen, um herauszufinden, ob er ihr das zumuten konnte. Schließlich nickte er. „Sobald Sie jemand hören, verstecken Sie sich hinter dem Sarkophag. Es muss ja niemand erfahren, dass wir beide hier allein waren.“
Calliope dachte an die Gerüchte, von denen Emmeline ihr berichtet hatte. „Allerdings“, sagte sie scharf. „Dann müssten Sie womöglich um meine Hand anhalten.“
„Schlimme Aussichten.“ Er zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin bald wieder da.“
Verblüfft sah Calliope ihm nach, wie er – Hermes gleich – die Galerie entlangeilte. Sobald er verschwunden war, lastete die Stille auf ihr wie der dickste Londoner Nebel. Die Schatten schienen näher zu kriechen, als wollten sie sich von dem Unheil ernähren, das sie witterten.
Calliope schlang sich die Arme um den Leib, um die Kälte abzuwehren und Camerons Berührung wieder heraufzubeschwören. Jetzt, da er nicht mehr hier war, um sie an die Athene in ihr zu erinnern, schwand ihre Tapferkeit dahin, aber sie musste stark bleiben. Es hing so viel davon ab.
Mit einem Kloß in der Kehle kniete sie sich neben den Duke. Sie bog die Finger seiner Hand auseinander und zog unter Mühen den verräterischen Stofffetzen heraus. Dann sammelte sie die grünen Perlen ein.
Dabei fiel ihr Blick auf den zerbrochenen Sockel der Statue. Aus einem Spalt ragte etwas heraus. Calliope sah näher hin: ein zerrissener Papierfetzen.
Bevor sie den Spalt genauer untersuchen konnte, hörte sie Stimmen und Schritte aus Richtung der Treppe. Sie hielt die Seide und die Perlen fest und kroch hinter den Sarkophag. Hier war es sogar noch kälter und dunkler. Sie drückte sich an das Hieroglyphenrelief und versuchte ganz lautlos zu atmen.
Nie im Leben hatte sie sich so allein gefühlt.
9. KAPITEL
Mit schweren Beinen schritt Calliope zu Hause die Treppe hinauf. Es war still; sie wurden erst in einigen Stunden zurückerwartet, und die Bediensteten hatten sich in ihre Räumlichkeiten zurückgezogen. Ihr Vater und Thalia waren noch im Haus des Dukes: ihr Vater, um das ganze Hin und Her zu beaufsichtigen, und Thalia, um nach Clio zu suchen. Calliope war nach Hause gekommen, um nachzusehen, ob Clio bereits hier war. Außerdem sehnte sie sich nach diesem langen, absonderlichen Abend nach dem Trost, den nur ihre eigene, ordentliche kleine Welt zu bieten hatte.
Calliope erschauderte. Sie würde sehr lange brauchen, um den Anblick Avertons zu vergessen: leichenblass bis auf die karmesinrote Platzwunde. „Ach, Clio“, flüsterte sie. „Was ist nur mit dir geschehen?“
Und was war zwischen ihr und Westwood – Cameron – vorgefallen? Heute hatte sie sich wie seine Verbündete gefühlt: als zögen sie am selben Strang. Das hätte sie nie für möglich gehalten. Aber sein Humor, seine Liebenswürdigkeit, die rasche, effiziente Art, mit der er die Krise gemeistert hatte …
Nein. Sie durfte jetzt nicht in Schwärmerei verfallen. Ihre Schwester ging vor. Sie musste herausfinden, was in der Galerie vorgefallen war.
Unter Clios Schlafzimmertür schimmerte ein
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