Betörend wie der Duft der Lilien
blauen Satinbänder ihrer Haube knapp unter ihrem linken Ohr zu einer flotten Schleife zusammen und betrachtete das Ergebnis im Spiegel. Stand ihr das wirklich? War die Haube nicht zu schlicht?
Und warum verschwendete sie Gedanken an ihre Kopfbedeckung, wo es doch erheblich wichtigere Gründe zur Besorgnis gab? Clio und den Duke, den Liliendieb und die Gesellschaft der kunstverständigen Damen, um nur drei zu nennen?
Sie ahnte natürlich, warum Mode ihr auf einmal so wichtig war, und diese Vermutung missfiel ihr. Sie stand so lange vor dem Spiegel, weil sie zu einer Spazierfahrt durch den Park eingeladen worden war – von Lord Westwood.
Cameron. Mit einem frustrierten Seufzer riss sie sich die Haube vom Kopf und brachte dabei das sorgfältige Lockenarrangement, Ergebnis von Marys Bemühungen, völlig durcheinander. Noch einmal las sie die Nachricht, die während des Frühstücks eingetroffen war.
„Miss Chase, gewähren Sie mir die Ehre, Sie heute Nachmittag durch den Park zu fahren? Dort können wir meines Erachtens am ehesten in Ruhe reden. Wenn es Ihnen genehm ist, hole ich Sie um halb vier ab.“
Wenn es ihr genehm war! Den Klatschmäulern der Stadt werden die Augen übergehen, wenn mich in Camerons gelben Phaeton entdecken, dachte Calliope. Sie fragte sich, wie sich das auf die Wettquote auswirken würde. Sie durfte nicht zum Gesprächsthema werden, gerade jetzt nicht, wo sie sich leise und unsichtbar an die Fersen des Liliendiebs heften wollte. War es der Duke? Oder Westwood? Der seltsame Minotaurus vom Ball? Oder jemand, den sie noch gar nicht in Erwägung gezogen hatte? Wie sollte sie im Park feststellen, ob nicht irgendjemand sie beobachtete und hinter vorgehaltenem Fächer über sie tuschelte?
Aber sie musste mit Westwood reden. Er war der Einzige außer dem Duke, Clio und ihr, der womöglich wusste, was sich in der dunklen Galerie wirklich zugetragen hatte. Vielleicht konnte er ihr helfen, aber sie musste es vorsichtig angehen. Womöglich war er auch das größte Hindernis auf ihrem Weg.
Calliope schob die Haube beiseite und griff zu den Morgenzeitungen. Die Klatschblätter verbreiteten sich ausführlich über die Ereignisse beim Maskenball, und kaum etwas stimmte. In einer Schilderung war der Schädel des Duke regelrecht gespalten worden. Dass er noch lebte, wurde offenbar als zu unbedeutend erachtet, um es zu erwähnen. Andere berichteten von gestohlenen Juwelen, reihenweise in Ohnmacht gefallenen Damen und maskierten Räubern mit gezückten Pistolen. Oder Schwertern. Oder Messern.
Keine der Darstellungen war jedoch so schrecklich wie ihre eigenen Erinnerungen. Der Kupfergeruch des Blutes, vermischt mit Staub. Der Seidenfetzen in der Faust des Dukes.
Calliope erschauderte und legte die Zeitungen beiseite. Irgendwo hinter den blutrünstigen Schlagzeilen und ihren eigenen, wirren Erinnerungen verbarg sich die Wahrheit. Sie musste sie erfahren, denn nur so konnte sie den Liliendieb aufhalten und zugleich Clio schützen.
Aber allein würde sie das nicht schaffen; sie war keine allmächtige Athene. Sie brauchte möglichst viele Verbündete: ihre Schwestern und die Gesellschaft. Und Cameron de Vere?
Konnte sie sich auf ihn verlassen? Letzte Nacht war er der Fels in der Brandung gewesen. Aber das änderte nichts an seiner Einstellung zu Antiquitäten und ihren alten Streitigkeiten. Es gab nur eine Methode, das herauszufinden: mit ihm reden. Sie musste den Versuch unternehmen, hinter seine heitere, charmante Fassade zu blicken, um seine wahre Natur zu erkennen.
Calliope drückte sich die Haube wieder aufs Haupt. Hätte sie doch nur ein paar verspielte Federn oder leuchtend bunte Früchte und Blüten gehabt. Oder besäße sie selbst wenigstens Thalias blaue Augen oder Emmelines weibliche Figur! Braune Augen, eine überschlanke Gestalt und ein schlichtes weißes Kleid waren bestimmt nicht ideal, um einem Mann seine Geheimnisse zu entlocken, vor allem nicht einem verwöhnten Frauenschwarm wie Westwood.
Doch jetzt war es zu spät, daran noch etwas zu ändern; sie musste sich sputen. Sie band die Schleife und griff nach ihrem blauen Spenzer. Mochten es ihr auch an einem verführerischen Äußeren mangeln, sie hatte etwas Wichtiges mit Cameron gemein: ihr Wissen über Geschichte und Antiquitäten. Sie sprachen dieselbe Sprache, wenn sie nur wollten.
Sie befestigte eine winzige goldene Brosche – die Eule der Athene – am Kragen des Jäckchens und sprach sich selbst leise Mut zu.
Die Hauptflanierzeit
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