Betörend wie der Duft der Lilien
die verheißene Freiheit zu entwischen.
Ihre dünnen Halbstiefeletten eigneten sich jedoch nicht für überstürzte Fluchten. Stattdessen ging sie die Kiesauffahrt entlang und sann über ihre eigentümliche Stimmung nach. Ihre Schwestern kabbelten sich oft; normalerweise störte sie sich nicht daran. Vielleicht war sie einfach unausgeschlafen, weil sie zu lang über den Liliendieb nachgegrübelt hatte. Die Warterei auf den nächsten Diebstahl machte sie ungeduldig und dünnhäutig. Diese Ferien waren genau das, was sie jetzt brauchte: ein paar Tage, um sich zu sammeln und auszuruhen, die frische Luft zu atmen. Picknicks und Wasserfälle …
Das Tor am Ende des Wegs schwang weiter auf, und ein einzelner Reiter galoppierte hindurch. Ihre Hoffnung auf Seelenfrieden löste sich in Rauch auf.
Selbst aus der Ferne erkannte sie den Mann: Cameron. Er trug keinen Hut, seine Locken waren noch länger und wilder als sonst, und sein Mantel blähte sich hinter ihm wie Flügel. Ein englischer Perseus auf seinem Pegasus. Sie sah sich um, aber es gab ringsum kein Versteck. Sie stand angewurzelt da, während er näher kam.
Er zügelte sein Pferd wenige Meter vor ihr, und eine Wolke von Kiesstaub wirbelte auf. Seine Stirn glänzte ein wenig, und auch sein Pferd war nass. Er hatte also einen schweißtreibenden Ritt hinter sich – vielleicht, um seinen Gedanken davonzueilen, genau wie sie?
Schweigend sah er zu ihr herab; nur sein heftiger Atem und der Wind im Laub der schiefen Bäume waren zu hören. Calliope hoffte kurz, er wäre nur ein Trugbild, aber dann schwang er sich aus dem Sattel und kam auf sie zu – nur zu real.
Sie trat zwei Schritte zurück, doch schon spürte sie die raue Borke eines Baums in ihrem Rücken. Er blieb stehen und streifte sich die Handschuhe ab, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Calliope schluckte. Sie wusste nichts zu tun oder zu sagen. Die durchdachten Benimmlektionen ihrer Mutter hatten sie nicht darauf vorbereitet, wie man einen Mann behandelte, den man bereits geküsst hatte.
„Guten Tag, Miss Chase.“
„G…guten Tag, Lord Westwood“, erwiderte sie. Ja, so würde es gehen: höfliche Konversation. „Wie war Ihre Reise?“
„Höchst ereignislos. Ich hoffe, Sie sind wohlauf? Und Ihr Vater und Ihre Schwestern? Vor allem Clio?“
„Ja, vielen Dank. Clio scheint sich bereits erholt zu haben. Sie freuen sich schon auf Herrn Müllers nächsten Vortrag.“
Seine Mundwinkel zuckten. „Tatsächlich? Haben sie in London noch nicht genug bekommen von seiner … äh … immensen Weisheit?“
Calliope unterdrückte ein Lachen. Jetzt bloß nicht hysterisch werden! „Ach, die Landluft tut uns allen gut. Offenbar haben Sie das schon früher erkannt als wir. Wir haben Sie letzte Woche beim venezianischen Frühstück der Burke-Smythes vermisst.“
„Ich hatte einiges mit meinem Verwalter zu besprechen, daher habe ich auf dem Weg hierher meinen eigenen Besitz besucht.“
„Ach so.“ Calliope suchte verzweifelt nach einem unverfänglichen Anschlussthema. Ganz so leicht war das nicht mit der höflichen Konversation. Nicht, solange sie eigentlich ganz andere Fragen stellen wollte: Warum hatte er sie geküsst? Und warum war er danach so schnell aus der Stadt verschwunden?
War es so schrecklich gewesen?
„Ich habe gehört, dass Ihr Landsitz sehr schön ist“, brachte sie schließlich heraus.
„Es ist wirklich hübsch dort, aber auch sehr einsam, seit meine Mutter tot ist. Alles ist ein wenig veraltet und bedürfte eigentlich einer weiblichen Hand.“
Einer weiblichen Hand? Calliope verschlug es schon wieder die Sprache. Also drehte sie sich um und ging auf das Haus zu. „Sie müssen erschöpft sein nach dem langen Ritt“, sagte sie. „Lady Kenleigh hält im Wohnzimmer Tee bereit. Und Emmeline plant alle möglichen Ausflüge. Morgen geht es zu den Wasserfällen.“
Cameron griff nach den Zügeln seines Pferdes und schloss zu ihr auf. Die leeren unteren Fensterhöhlungen der Abtei schienen sie anzustarren.
„Calliope“, sagte er leise und hielt sie mit einer sachten Berührung am Ellbogen auf. „Wir sollten über diesen Abend in der Altertumsgesellschaft reden.“
„Ach so. Ja.“ Er sah sie mit großen Augen an, in denen sie nichts als Gleichgültigkeit las: Mit demselben Blick hätte er wohl auch die Abtei und ihre Geistermönche bedacht. „Sie brauchen nicht das Gefühl zu haben, dass Sie sich entschuldigen müssten. Es war ganz und gar meine Schuld. Ich war so durcheinander wegen
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