Betörend wie der Duft der Lilien
aufgeschäumt. Er beschleunigte sich und stürzte tosend über riesige Felsbrocken ein Dutzend Meter in ein Becken.
Ein würziger dunkler Erdgeruch stieg Calliope in die Nase, mit Noten von Moos und Bärlauch, und zwischen den Steinen blühten überraschend viele Wildblumen.
Sie hielt inne und konnte sich gar nicht sattsehen an dieser traumhaften Szenerie. Sie umklammte Camerons Hand, und es war, als würde sich alles – ihre Freundinnen, ihr Platz in dieser Welt, sogar die Alabastergöttin – einfach auflösen. Alles, was sie für wichtig gehalten hatte, war wie weggeblasen, und es gab nur diesen Augenblick.
„Calliope?“, fragte Cameron leise. „Ist alles in Ordnung?“
„Es ist nur so schön hier“, flüsterte sie. „Haben Sie je etwas Schöneres gesehen?“
„Nur einmal“, sagte er, und ganz sacht berührte er mit einem Finger eine Locke, die sich unter ihrer Haube hervorgewagt hatte.
Calliope errötete und ließ seine Hand los. Der magische Augenblick war vorüber, zerstört durch ihre Verlegenheit, und sie lief zur Gruppe hinunter, so schnell es auf diesem glitschigen Boden möglich war. Wie schaffte er das nur? Wieso musste sie jedes Mal, wenn sie sich trafen, sich selbst, ihre Pflichten, ihren Platz in ihrer wohlbehüteten Welt vergessen?
Er überwältigte sie mit seiner Ausstrahlung von Freiheit, mit seiner männlichen Schönheit, und ließ sie einen glücklichen Augenblick lang alles andere vergessen. Sie war gegen den Charme des „griechischen Gotts“ ebenso wenig gefeit wie alle anderen Frauen in London.
Ein Gott des Lichtes und der Heiterkeit – und sie war die schulmeisterlichste aller Musen, ganz aufs Praktische, aufs Lernen und Bewahren gerichtet und stets eine Ermahnung auf den Lippen. Keine Romantik, keine überschwänglichen Lobgesänge auf die Natur und die Kultur. Ja, Cameron und sie waren jetzt Verbündete, geeint im Willen, die Alabastergöttin zu retten. Aber sobald Artemis in Sicherheit war, würden sich ihre Wege trennen: Sie waren zu verschieden.
Sobald sie zu Clio aufgeschlossen hatte, blieb sie stehen, um den Himmel zu betrachten, jenes schmale, blass silberblaue Band, dessen Licht kaum bis auf den Grund der Schlucht reichte. Genau so kam ihr ihr eigener Geisteszustand vor: Sie erahnte eine Wahrheit, einen verborgenen Sinn, aber dieser blieb flüchtig und blass und drang nicht ganz zu ihr durch.
Sie sah Clio an, die schweigend in die zischenden, brodelnden Wassermassen blickte. Ihre Schwester hatte viel mit diesem Felsenkessel gemein. Dunkel und unfassbar, voller geheimnisvoller Winkel, in denen Geister hausen mochten. Diese Vorstellung ängstigte Calliope; sie hätte alles getan, um Clio vor den unbekannten Gespenstern zu retten, die sie verfolgten. Doch sie konnte nichts tun, solange sie nicht wusste, was in ihr vorging.
„Mir gefällt es hier“, sagte Clio. „Dieser Ort ist uralt. Älter als das Gedächtnis der Menschheit, als alles, was wir uns vorstellen können.“
„Man sagt, dass es hinter dem Wasserfall eine Höhle gibt“, erklärte Emmeline.
„Dann sollte ich wohl mal hinüberschwimmen, um das zu überprüfen“, sagte Thalia sofort. Calliope schloss verzweifelt die Augen, denn es war keineswegs ausgeschlossen, dass Thalia es ernst meinte.
„Du würdest dir den Tod holen“, meinte Clio gedankenverloren. „Erzähl uns noch mehr über diesen Wasserfall, Emmeline. Es ranken sich bestimmte viele Sagen um ihn.“
Eine Stunde lang saßen sie auf den Felsbrocken am Becken und lauschten Emmelines Geschichten über die alten Wassergeister. Und die ganze Zeit über spürte Calliope durch den kalten Dunst des magischen Flusses Camerons Blicke auf sich ruhen.
Als sie sich auf den Rückweg begaben, hatte die Sonne sich vollends gegen die Wolken durchgesetzt und die letzten Nebelfetzen aufgelöst. Das Land, von den allgegenwärtigen Steinmauern in Quadrate und Rechtecke unterteilt, war zwar noch ebenso schön, aber die Magie war dem ländlichen Alltag gewichen: Sie sahen Bauern, die ihre Felder bestellten, Wagen, Kaltblutpferde und Schafe, die auf der Suche nach Futter über die Hügel zogen.
Dennoch ließ der Zauberbann des Wasserfalls Calliope nicht ganz los. Diese Losgelöstheit, dieses Gefühl, sich sogar in ihrer eigenen Gedankenwelt nicht mehr zurechtzufinden. Es missfiel ihr, so verwirrt zu sein.
Es gab nur einen Ausweg. Sie musste sich auf die Alabastergöttin konzentrieren. Sie erinnerte sich an das Blatt, das sie in ihrem Gepäck versteckt
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