Betörend wie der Duft der Lilien
hatte: die Namensliste, die sie von jenem Papierfetzen abgeschrieben hatte, den Clio im Sockel der Alabastergöttin gefunden hatte. Vielleicht enthielt diese Liste jenen flüchtigen Hinweis, den sie nicht recht zu greifen bekam: Vielleicht war sie der Schlüssel zu allem.
Sie warf einen Blick zurück auf Cameron, der neben Lotty herging und der Inhaltsangabe des Romans lauschte, den sie gerade las. Er hörte höflich zu, nickte an den passenden Stellen, warf kluge Bemerkungen ein und wirkte dabei kein bisschen ungeduldig. Womöglich interessierte er sich wirklich für solchen Lesestoff.
Es war wirklich das Beste, ihm die Liste so bald wie möglich zu zeigen. Sie selbst konnte sie nicht entschlüsseln, aber ihm, der den Duke und dessen Welt besser kannte, würde vielleicht etwas dazu einfallen. Zumindest würde er ihre Grillen wohl ebenso gutmütig über sich ergehen lassen wie Lottys.
„Lasst uns hier entlanggehen“, schlug Emmeline vor. „Das ist eine Abkürzung zur Hauptstraße, und Papa hat gesagt, dass Herr Müller uns vor dem Mittagessen noch etwas über Sokrates erzählen möchte. Oder war es Sophokles?“
„Ich kann es kaum erwarten“, murrte Clio. „Er wird uns bis zum Abend nicht aus seinen Fängen lassen, ganz gleich, wie laut unsere Mägen knurren.“
Calliope lachte. „Scht! Herr Müller ist ein renommierter Gelehrter. Wir können uns glücklich schätzen, dass er sein Wissen mit uns teilt.“
„Wenn du meinst“, sagte Clio skeptisch. „Wissen ist nie verkehrt. Aber mir liegt der Wasserfall mehr.“
Sie folgten Emmeline auf einen schmalen Pfad unter einem natürlichen Laubengang aus den Ästen knorriger Bäume, die bewegte Schatten auf den Boden malten. Die fast schon gespenstische Stille wurde nur von ihrem Gemurmel und dem Knacken der Zweige unter ihren Schuhen durchbrochen.
„Lotty wird das hier sicher Das Versteck der Waldhexe taufen“, flüsterte Clio. „Hüte dich, o Wanderer, gib acht!“
Calliope lachte, aber zugleich lief ihr ein Schauder über den Rücken.
Endlich traten sie aus dem Wald auf einen breiteren, sonnigen Weg hinaus, und schon wieder erwartete sie ein magischer Anblick: Auf einem fernen Berggipfel stand eine Burg, nur vom weiten Himmel umrahmt.
Sie stammte wohl nicht aus der Zeit der Wikinger, sondern eher aus dem Mittelalter. Calliope tippte angesichts der rauen Steinwände und der zinnenbesetzten Brustwehr, auf der eigentlich nur die wehenden Wimpel fehlten, auf das vierzehnte Jahrhundert. Aus dieser Entfernung erahnte man gerade noch die Schießscharten, und bestimmt gab es auch eine Zugbrücke und einen Graben. Stumm und unbewegt wachte dieser Koloss über die Landschaft, schön auf seine ganz eigene Weise: vollständig erhalten, im Unterschied zu den berühmten Ruinen, die sie kannte, Bolton zum Beispiel oder Richmond.
Dauerhaft und kalt.
„Das ist Averton Castle“, sagte Emmeline.
Calliopes Überraschung hielt sich in Grenzen. Der Bau hatte viel mit dem Duke gemeinsam: geheimnisvoll, schön, aber zugleich abstoßend und befremdlich altmodisch.
Die Alabastergöttin war irgendwo in dieser kalten Festung eingekerkert.
Calliope ergriff Clios Hand. Clio wandte den Blick nicht von dem Kastell, zog aber zumindest ihre Hand nicht weg. Ihre Finger schlossen sich fest um Calliopes. „Typisch“, sagte sie nur. Dann drehte sie sich um und setzte ihren Weg fort.
16. KAPITEL
„In Ödipus zeigt uns Sophokles einen zugleich verfluchten und gesegneten Mann, der durch alles geprägt wurde, was er durchlitten hat. Sein Leben war sowohl frei als auch vom Schicksal geprägt, wie man dieser Passage entnehmen kann …“
Calliope rutschte auf ihrem Stuhl herum. Heute Abend wollte sie sich nicht mit Männern beschäftigen, die ihre Väter töten, ihre Mütter heiraten und am Ende geblendet umherirren. Sie musste sich um andere Dinge kümmern: Dinge, die hoffentlich ein besseres Ende nehmen würden als dieses „freie und vom Schicksal geprägte“ Leben.
Sie legte die Hände auf ihr perlenbesticktes Ridikül, in dem sie das zusammengefaltete Blatt ertasten konnte. Cameron saß an der anderen Seite des Raums, sein starrer Blick ließ erkennen, dass seine Gedanken ebenfalls auf Wanderschaft gegangen waren.
Woran mochte er denken? An die Landschaft, durch die Ödipus geirrt war? Zerbrochene Marmorstatuen im gleißenden Licht, Eidechsen, die im vertrockneten Gestrüpp raschelten: auch dies ein magisches, uraltes Land. Vielleicht war es das, was sie in diesen ewigen
Weitere Kostenlose Bücher