Betörend wie der Duft der Lilien
verschmolz Artemis mit der Finster nis, und sie stürzte vom Sarkophag weiter in die Tiefe. Sie landete auf einer abschüssigen Sommerwiese und rollte seitwärts den Hang hinab.
Schließlich kollidierte sie mit einem Paar polierter Stiefel. Vom Sonnen licht geblendet, sah Calliope auf: Es war Cameron; der Wind spielte in seinen Locken.
„Calliope“, sagte er verführerisch und beugte sich lächelnd zu ihr herab. Dieses heitere, sorglose Lächeln, das ihr so gefiel: Was verbarg sich dahin ter? „Darf ich?“
Er hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen, und Artemis’ Worte fie len ihr wieder ein: „geheime Gegner“.
Sie rappelte sich auf und wich vor ihm zurück. Doch jetzt stand sie al lein auf der Wiese, und eine Wolke schob sich vor die Sonne …
Keuchend erwachte Calliope. Das Kaminfeuer war zu bernsteinfarbener Glut heruntergebrannt, und ihr Bettzeug war zerknüllt. Der Baldachin und die dunkelroten, schweren Brokatvorhänge, so ganz anders als ihre blau-weißen Chintzvorhänge daheim, gaben ihr das Gefühl zu ersticken. Sie kletterte aus dem Bett, hüllte sich in den Morgenmantel und trat ans Fenster.
Der Mond schien immer noch hell auf die Gärten und tauchte den Springbrunnen und die Statuen in ein silbergrünes Licht, das sie fast transparent wirken ließ. Calliope atmete tief durch. Normalerweise erinnerte sie sich kaum an ihre Träume, und wenn, dann waren sie schrecklich trivial. Keine geheimen Gegenspieler, kein Wasserfall, kein Cameron.
Sie dachte an die antiken Statuen. Solche Objekte waren ihr nie lebendig erschienen. Wichtig und schön, das ja. Symbole für etwas, das einst gelebt hatte und von dem sie Kunde gaben. Aber doch nicht selbst belebt und voller Verlangen und Absichten. War es vielleicht das, was Cameron angetrieben hatte, als er die Sammlung seines Vaters nach Griechenland zurückgeschickt hatte? Zwar verstand sie ihn noch immer nicht, denn das heutige Griechenland war nicht das Griechenland der Antike, aber …
Im Schatten unter ihrem Fenster rührte sich etwas und riss sie aus ihren Gedanken. Sie lehnte die Stirn ans kalte Glas, um besser sehen zu können. Träumte sie etwa immer noch?
Nein, die Gestalten, die nun aus dem Schatten ins Mondlicht traten, wirkten ganz real: eine große, schlanke Person in einem Mantel und einem breitkrempigen Hut und eine kleinere in einem Kapuzenumhang. Neben dem Brunnen steckten sie die Köpfe zusammen.
Langsam und lautlos öffnete Calliope ihr Fenster. Wahrscheinlich war es nur ein Liebespaar, aber angesichts Artemis’ Warnung konnte es nicht schaden, ein wenig zu lauschen.
Leider trug der Wind die Worte nicht zu ihr herüber. Sie schnappte nur wenige Fetzen auf: „Bald – …genblick – hier“, zu wenig, um einen Sinn zu ergeben. Dann drückte die Person im Umhang der anderen etwas Helles, Rechteckiges in die Hand: einen Brief. „Warte“, hörte Calliope. Die größere Gestalt eilte davon, die kleinere huschte auf den Schatten am Haus zu. Die Kapuze fiel nach hinten, und das Mondlicht fiel auf eine Brille und lange rotbraune Locken.
Schockiert atmete Calliope ein und verbarg sich hinter dem Vorhang. Clio! Ihre Schwester setzte sich die Kapuze auf und verschwand im Haus. Im Garten herrschte wieder Ruhe.
Calliope hielt sich die Hand vor den Mund. Was hatte Clio da getan? Wer war die Gestalt mit dem Hut? Wie ein romantisches Stelldichein hatte die Szene nicht gewirkt. Clio hatte sich in letzter Zeit zwar eigentümlich verhalten, aber Calliope hatte das bisher auf den Zusammenstoß mit Averton zurückgeführt. Hatte diese Sache auch etwas mit Averton zu tun?
„Geheime Gegner“, hatte Artemis geraunt. Calliope hielt sich die Ohren zu, aber die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Sie fürchtete, sie nie mehr loszuwerden.
17. KAPITEL
Ein wunderschöner Morgen brach an, der so gar nicht zu Calliopes Nacht passen wollte. Sie öffnete das Schlafzimmerfenster, lehnte sich hinaus und atmete tief ein. Die neblige, frische Luft roch nach Erde, eine kühle Brise strich über ihre Wangen und weckte ihre Lebensgeister nach dem befremdlichen Traum und der ebenso verstörenden Szene im Garten. Auch die Umgebung belebte sich allmählich. Die Landarbeiter erledigten ihre morgendlichen Pflichten, in der Ferne hörte sie Schafe blöken.
War es ein Fehler gewesen, Cameron die Liste zu zeigen, zumal da Clio womöglich in die Sache verstrickt war? Einerseits hatte er desinteressiert gewirkt, andererseits hatte er die Liste unbedingt behalten
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