Betörend wie der Duft der Lilien
wollen … Sie rieb sich die Augen. Hätte sie doch nie vom Liliendieb gehört! Aber dann hätte sie auch Cameron nie näher kennengelernt, hätte nie erfahren, wie er wirklich war. Andererseits: Wusste sie denn, was sich wirklich hinter seinem schwer zu deutenden Blick verbarg?
Ein Rätsel, das sie heute Morgen bestimmt nicht lösen würde. Sie musste sich für das Picknick zurechtmachen. Als sie gerade das Fenster schließen wollte, hörte sie, wie sich unten eine Tür öffnete. Wieder Clio? Sie beugte sich vor und sah Cameron – und wieder war es, als habe sie ihn durch ihre Grübeleien regelrecht heraufbeschworen.
Er trug sein Haar offen und hatte auf Hut und Krawattentuch verzichtet. Sie erinnerte sich an die Gerüchte, dass er im griechischen Bergland mit Banditen umhergezogen war. Wie er jetzt über den Rasen stiefelte, konnte sie sich das gut vorstellen: Er hatte etwas zutiefst Unenglisches, Ungezähmtes an sich. Vielleicht hatte sie ihm die Liste gerade darum anvertraut: Ein griechischer Bandit würde sie ganz anders betrachten als die konventionellen Männer in ihrem Bekanntenkreis und würde ihren Sinn vielleicht eher begreifen.
Seine Andersartigkeit hatte sie von Anfang an zugleich geängstigt und angezogen. Aber was musste ein solcher Mann in einer Frau wie ihr sehen?
„Cameron“, rief sie leise.
Als er sie entdeckte, lächelte er nicht, winkte ihr aber zu. Sie signalisierte ihm, auf sie zu warten, und schloss das Fenster. Dann warf sie sich ihren Umhang um und eilte die Treppe hinab. Außer den Dienstmädchen, die Wasser holten und Feuer machten, war so früh noch niemand auf den Beinen, der sie wegen ihres Ausflugs hätte zur Rede stellen können.
Cameron wartete auf dem Kiesweg vor dem Brunnen auf sie, genau da, wo Clio letzte Nacht den mysteriösen Unbekannten getroffen hatte. „Sie sind früh auf“, sagte er. In seinen cognacfarbenen Augen vermochte sie immer noch nichts zu lesen, weder Überraschung noch Freude oder aber Verärgerung über die Störung.
„Genau wie Sie“, erwiderte sie. „Ich konnte nicht mehr schlafen.“
„Wegen der Liste. Ja, die beschäftigt mich auch. Ohne weitere Anhaltspunkte jedoch …“
„Können es nicht wirklich Verbrecher sein, die der Duke beschäftigt? Immerhin stammt die Liste aus seiner Statue. Kann er nicht in den illegalen Antiquitätenhandel verstrickt sein?“
Cameron lachte freudlos. „Es würde zu ihm passen. Aber warum sollte er? Er ist reich genug, um alles, wonach ihn gelüstet, legal zu erwerben.“
Calliope erinnerte sich daran, wie der Duke mit glühendem Blick seine Marmor-Daphne gestreichelt und sie mit Clio verglichen hatte. „Vielleicht wegen des Nervenkitzels. Weil nur etwas Verbotenes seine Langeweile mildern kann.“
Cameron lächelte plötzlich; sein Ernst war verflogen. „Verboten – wie ein Zwiegespräch im Garten, während das Haus noch schläft?“
Sie lachte. Er hatte natürlich recht, und das zeigte, wie sehr sie sich verändert hatte: Die alte Calliope hätte so etwas nie gewagt. „Ich finde nicht, dass wir uns dadurch auf eine Ebene mit Kunstdieben begeben. Aber ich räume ein, dass ich den Reiz des … Unkonventionellen inzwischen etwas besser nachvollziehen kann.“
„Habe ich Sie also doch noch bekehrt.“ Sacht berührte er eine lange Locke ihres offenen Haars, und irgendetwas in seinem Blick ließ sie erschauern.
Unsinn! Das liegt nur daran, dass du noch nicht gefrühstückt hast. Sie wehrte seine Hand ab und machte einen Schritt zurück. „ So sehr bin ich nun doch wieder nicht dem Unkonventionellen verfallen, Sir.“
Cameron zuckte mit den Schultern und steckte die Hände in die Manteltaschen, um nicht noch einmal der Versuchung zu erliegen. „Das ist nur eine Frage der Zeit, Calliope. Wer einmal die Freiheit gekostet hat, wird süchtig danach.“
„Ist es das, was Ihnen fehlt, Cameron?“, fragte sie leise. „Vermissen Sie die Freiheit?“
Er lächelte, aber ohne echte Heiterkeit. „Bin ich nicht frei?“
„Es heißt, in Griechenland hätten Sie bei Banditen gelebt.“
„Das stimmt. Eine Weile. Sie brauchten Geld, und ich habe sie dafür bezahlt, mir antike Stätten zu zeigen, die man normalerweise nicht zu Gesicht bekommt. Tempel und Gräber weitab der üblichen Reiserouten.“
Vor ihrem inneren Auge sah Calliope zerbrochene Säulen, Götterbilder in halb verschütteten Höhlen, knorrige Olivenbäume in einem sonnigen Tal. „Umso schwerer muss es Ihnen fallen, jetzt … hier zu
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