Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Betörend wie der Duft der Lilien

Betörend wie der Duft der Lilien

Titel: Betörend wie der Duft der Lilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: AMANDA MCCABE
Vom Netzwerk:
Hälfte aus Wasser. Himmel und Meer leuchten blau, manchmal türkis, manchmal dunkelblau wie ein Saphir. Die Griechen sind viel stärker der Natur zugewandt als wir; vielleicht war es hier zur Zeit der Erbauer dieser Hügelgräber ähnlich. Sie sind ein Volk der Berge und Wälder, der Flüsse, des Himmels und des salzigen Seewinds.“
    „Wie die Musen in ihrem Hain oder Zeus auf dem Gipfel des Olymp?“
    „Genau so. Für sie ist das Land etwas Beseeltes.“
    „Und ist es Ihnen auch beseelt vorgekommen?“
    Er richtete sich auf und zog die Knie an die Brust. Obwohl sein Blick auf den Fluss gerichtet war, hatte Calliope den Eindruck, dass er das Wasser und ihre Freundinnen gar nicht sah, sondern ganz im heißen Griechenland weilte.
    „Einer der Lieblingsorte meiner Mutter war die Insel Delos. Ihr Vater, ein großer Gelehrter, hat sie als Kind oft dorthin mitgenommen, und sie hat mir delische Sagen erzählt, als ich noch klein war. Wie Apoll und seine Zwillingsschwester Artemis dort zur Welt kamen. Wie Delos lange vor dem Aufstieg Athens und Delphis in seinem Heiligtum alle Reichtümer der Welt versammelt hatte.“
    Fasziniert von diesem seltenen Einblick in Camerons Seele beugte Calliope sich vor. „Waren Sie dort?“
    „Natürlich. Es sah ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Wie Sie bin ich mit Erzählungen über das Griechenland von einst groß geworden. Marmorsäulen, große Tempel, die Geburt der Freiheit. Heute sieht es dort ganz anders aus – vor allem Delos.“
    „Dann bleibe ich lieber hier, als mir die Illusionen rauben zu lassen.“
    Cameron schmunzelte. „Das dachte ich anfangs auch, als ich dort im Staub stand. Doch ich habe auf Delos etwas Überraschendes entdeckt. Etwas … Magisches.“
    „Erzählen Sie es mir?“
    „Apoll tat mir fast leid, dass er auf einer so trostlosen, winzigen, kahlen Insel aufwachsen musste. Ich bin am frühen Morgen dorthin gekommen; es war grau und neblig, als mein Boot anlegte. Es sah aus wie in einem verlassenen Steinbruch; zwischen der wilden Gerste lagen Trümmer herum. Doch dann lichtete sich der Nebel, die Sonne brach durch, und ich sah, was meine Mutter gesehen hatte. Die Steine dort sind nicht honigfarben wie im Parthenon, Calliope, sondern von einem so reinen Weiß, dass es schon silbrig wirkt. Sie glitzern im Licht und werfen die Töne des Meeres und der Statuen zurück. In der flirrenden Hitze, in der sich sonst nur die Eidechsen regen, wirken sie wie lebendige Wesen. Steinerne Schwäne schwimmen über ihren einstigen See, und über die ganze Szenerie wacht die Löwinnenarmee der Artemis.“
    Calliope sah es fast vor sich. „Wie unsere Löwin im Haus des Dukes?“
    „Ja, ich glaube, sie ist eine Vorfahrin der delischen Löwinnen. Jung und kampfesfreudig kauern sie da, als könnten sie jederzeit aufspringen. Einst sollen es vierzehn gewesen sein, aber es sind nur fünf von ihnen übrig, und eine weitere vor dem Arsenal in Venedig. Aber die letzten fünf sind immer noch sehr wachsam und stark.“
    „Aber Ihnen haben sie nichts getan?“
    „Vielleicht haben sie sich an meine Mutter erinnert. Artemis war ihre Lieblingsgöttin.“
    Calliope dachte an die Alabastergöttin, die sie mit erhobenem Bogen vor ihren Feinden gewarnt hatte. Sie stellte sich vor, wie sie am Eingang von Delos Wache hielt, damit die silberweißen, im Sonnenlicht flirrenden Schwäne weiter in Ruhe ihre Bahnen ziehen konnten. „Wie gerne ich das einmal sehen würde.“
    „Eines Tages, Calliope.“
    Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht so unerschrocken wie Sie. Abenteuer sind nichts für mich.“
    „Ach? Man sollte meinen, wer einen Dieb jagt, liebt das Abenteuer.“
    „Nein, nein. Ich will nur, dass die Gerechtigkeit siegt.“ Auch wenn sie nicht mehr recht wusste, was gerecht war.
    Cameron kramte im Picknickkorb und förderte das letzte Zitronentörtchen zutage. „Ich glaube, Sie täuschen sich über sich selbst, Calliope Chase.“
    Er hielt ihr das Törtchen mit der sonnengelben Cremefüllung an die Lippen. Als sie hineinbiss, explodierte der köstliche Zitronengeschmack förmlich auf ihrer Zunge.
    Glücklich lächelte sie Cameron zu. Alles stimmte an diesem Tag: die Sonne, das plätschernde Wasser, die Gegenwart ihrer engsten Freundinnen, die uralte Magie dieser Landschaft. Sie fühlte sich frei: frei von den Blicken der Londoner Gesellschaft und von ihren selbst auferlegten Pflichten und Zwängen. Hier konnte sie alles sein, was sie sein wollte.
    Sogar eine

Weitere Kostenlose Bücher