Betreutes Trinken
Höhlen, in denen man sich verstecken könnte. Das hässliche Sofa. Die vergammelten Stühle. Die Kochnische, die ich Küche nenne. Wie kann jemand so leben?
Bis halb drei räume ich auf. Rechtschaffen müde, oder zumindest auf dem Weg dorthin. Schiwago belohnt meine Bemühungen, indem er seine langen, grauen Haare großflächig auf der Bettdecke verteilt. Vielleicht kann ich mir daraus morgen eine Perücke flicken.
Punkt neun Uhr. Meine Waschmaschine läuft. Die der Nachbarin ebenfalls. Ein Zug aus der Elektrozigarette, die heute mit der Post kam, per Einschreiben.
Meine Mama hat mir verschiedene Geschmacksrichtungen dazu bestellt: Kirsch, Schokolade, Pfefferminz, Traube-Nuss und Kaffee. Andere Mütter schicken Fresspakete. Andere Leute hätten gerne so eine coole Mutter. Andere Leute sind dafür auch »so was wie verliebt« in dich, und schlafen gleichzeitig mit deiner besten Freundin. Kurz überlege ich, die Bettwäsche wieder aus der Maschine zu holen, um sie zu verbrennen. Aber ich habe keinen Bock mehr auf solch hochdramatische Aktionen. Ich werde die Bettwäsche einfach in den Oxfam-Laden bringen, die freuen sich darüber.
Ich kann so verdammt vernünftig sein, wenn es keiner merkt.
Das sollte ich schnellstens ändern.
XLI
G uten Morgen, hier ist das Büro des Anker e. V., Sie sprechen mit …«
»Hallo Margret. Ich bin’s. Doris. Kann ich vorbeikommen? Heute noch?«
»Klar. Wann passt es dir?
»Wann passt es dir ?
»Jederzeit, Doris.«
»Ich bin in zwanzig Minuten da. Pünktlich.«
»Ach, wenn man mir zehn Cent geben würde für jedes Mal, wenn ich das höre …«
Ich schaffe es in achtzehn Minuten, von Wohnungstür zum Büro.
Und ich erzähle Margret alles. Ohne Kippenpause. Vom Mädchenprobetag. Von Ludis Geburtstagsparty. Kiras Auftauchen dort. Von Ludis Bitte, mit meinen Freunden spielen zu dürfen. Von seinem Anruf bei mir. Dem Hilferuf, der vermisst wurde, wenn sich ein Teenager das Leben nehmen will. Margret hört sich das alles an. Sagt nur drei- oder viermal »Scheiße« zwischendurch. Irgendwann bin ich fertig. Und Margret kann anfangen: »Schön, dass ich das auch noch alles erfahre. Von dir. Kira hat zwanzigmal versucht, sich den Schuh anzuziehen, aber der konnte ja nicht passen. Sie hat immer nur von einer ominösen Kneipe erzählt, in der sie Ludolf gesehen hätte. Und gemeint, er hätte ein Alkoholproblem.«
»Völliger Schwachsinn«, kann ich nur unterstreichen.
Margret ist auf Zack: »Was hat er denn deiner Meinung nach für ein Problem, Doris? Und denk bitte nach, bevor du sprichst.«
Er war einsam? Fühlt sich missverstanden? Er ist ein Teenager! Der hier immer ein bisschen Stimmung in die Bude gebracht hat. Und mit allen Mädchen geschäkert hat, auch mit denen, die einen Kopf größer sind als er. Oder zwei Köpfe. Oder doppelt so alt wie er.
Dabei ein erklärter Gegner des reinen Mädchentages. Er wollte entweder Hugh Hefner der Zweite werden oder: »Wahrscheinlich kommt er nicht mit seiner Homosexualität zurecht.«
Margret verzichtet darauf, mir ein Häkchen hinter die erste richtige Antwort zu setzen, die ich ihr je in diesem Büro gegeben habe, sei es schriftlich oder mündlich. Gespielt erstaunt fragt sie weiter: »Oh, aber das ist doch heutzutage kein Problem mehr, gerade nicht in dieser Stadt. Ich meine es gibt doch sogar das »Bi-You«, für schwule, lesbische und unentschlossene.«
Da muss ich jetzt durch: »Ich denke, wenn man schon sehr klein, adoptiert, kurzsichtig und Asiate ist, zudem offenbar noch hochintelligent, aber doch unter Leserechtschreibschwäche leidet, möchte man vielleicht nicht noch einer Randgruppe angehören, oder?«
Margret hat jetzt offenbar Freude an dem Spiel gefunden, reagiert sich auf ihre Weise ab, mit einer grauenvollen Pantomime: Sie macht einen Kussmund und wiegt unsichtbare Melonen in den gespreizten Händen ab. Ich bin nah dran, aber noch nicht ganz da: »Okay, okay. Ob und wann man sich outen kann, hängt von der Erziehung, dem Umfeld, aber ganz besonders vom Individuum ab. Und ob es eine Vertrauensperson gibt, der man sich offenbaren kann. Ludi hatte da keine Gelegenheit gesehen. Oder ich habe sie übersehen. Mehrfach. Ich habe ihn nicht ernst genommen. Gar nicht.«
Margret hat sich das langsame Klatschen abgeguckt, von ihrem neuen Intimus, Ferdi Fernando. Sie sollten sich gemeinsam einem Wanderzirkus anschließen.
Ich sollte bei der Sache bleiben: »So, Doris, das wollte ich von dir hören. Und was willst du jetzt von
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