Betreutes Trinken
jetzt die Augen, und ich bestimme, wer mit rauskommt.«
Holger schnappt sich begeistert Alberts Halstuch, hüpft erstaunlich behände auf die andere Thekenseite und verbindet Marie die Augen. Olaf deutet auf die fünf Auserwählten, die er mit vor die Kneipentür nehmen will. Ich bin nicht unter ihnen, aber das ist mir lieber so, nur zu gerne schaue ich mir das Wunder wieder von Anfang bis Ende an.
»Wie viele Finger siehst du?«, fragt Holger Marie, um sich zu versichern, dass Alberts Schal blickdicht ist.
»Keinen«, antwortet das Teilzeitorakel, denn Holger hat in der Aufregung versäumt, ihr seine Hand vor das Gesicht zu halten.
Holger seufzt und erklärt dem Publikum überflüssigerweise: »Wir fangen trotzdem an. Olaf, schick jemanden rein. Die anderen bitte absolute Ruhe.«
Alle schauen gespannt auf die Kneipentür, sie öffnet sich quietschend.
Miriam erscheint im Türrahmen, deutet einen Knicks in die Runde an, sagt aber gemäß den Spielregeln nichts. Marie nickt: »Das war einfach, hallo Miriam!« Anerkennendes Raunen geht durch den Raum, aber das war nur der erste Teil der Aufgabe. Mit verbundenen Augen tastet sich Marie elegant zum richtigen Kühlschrank vor, entnimmt diesem zielsicher das von Miriam favorisierte Getränk, ein alkoholfreies Bier, und öffnet es. Die Menge hält den Atem an, Marie konzentriert sich kurz und spricht dann: »Zusammen mit diesem Bier hat Mimi dann einen Deckel über zehn Euro sechzig!«
Holger schaut auf den Zettel an der Wand, auf dem unsere Sünden vermerkt sind, rechnet das Bier hinzu und hält einen Daumen hoch: »Zehn sechzig, exakt!«
Wir klatschen, Marie schüttelt den Kopf: »Zu einfach.«
Die nächsten drei Kandidaten und deren Getränkewünsche errät Marie ebenfalls richtig, sie vollbringt es sogar, blind einen perfekten Wodka Lemon zuzubereiten, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten. Als jedoch Felix’ grinsendes Gesicht im Türspalt erscheint, gerät unsere Goldmarie in ein völlig unerwartetes Formtief.
Falten erscheinen auf ihrer Stirn, sie sieht plötzlich so alt aus, wie sie tatsächlich sein müsste. Felix latscht noch einmal unterstützend an der Theke vorbei, lässt seinen Schlüsselbund dabei klimpern und schnauft sogar leise, völlig regelwidrig.
Marie schweigt. Felix hört auf zu schnaufen, lehnt sich aber so weit über die Theke, dass Marie ihn am Geruch erkennen müsste. Sie wendet sich von ihm ab und meldet leise: »Okay. Felix trinkt Pils«, nennt aber nicht mal die Marke.
»Okay, aber wie hoch ist sein Deckel«, fragt eine nicht zu identifizierende Stimme aus dem Dunklen.
»Ja genau, Marie, das müsstest du doch wissen«, feuert Holger Marie an, sein Finger gleitet über den Kontrollzettel an der Wand, er sucht Felix’ Deckel. Und findet ihn.
»Oh-ha«, entfährt es ihm dann, und obwohl Marie gar nicht mehr lächelt, kann er nicht aus seiner Haut. Ehrfurchtsvoll liest er die Summe ab, die hinter Felix’ Namen notiert ist:
»Dreihundertneunundsechzig Euro siebzig! Wahnsinn.«
Marie befreit sich nun endlich von ihrem Sichtschutz, reißt die Liste von der Wand und verschwindet in die Küche. Die Tür knallt hinter ihr zu, Ende der Vorstellung.
Das Publikum starrt Holger kopfschüttelnd an, da Felix bereits aus der Vordertür entwischt ist.
»Hey, ich habe nur vorgelesen, was da stand, so sind die Regeln«, versucht er sich zurechtfertigen, aber Albert fährt ihm über den Mund.
»Regel gilt nicht mehr, Alter!« Leises Gackern aus dem Hintergrund.
»Genau, Django!«, bestätigt irgendein Witzbold, und das Gackern wird mehrstimmig.
Egal, wie viel in der Kasse fehlt, für Sparwitze reicht es immer noch, wenn man mit allen teilt.
Die breite Masse schickt sich an, aus der kümmerlichen Vorlage einen Motivteppich zu knüpfen, Thema: Die besten Zitate aus den schlechtesten Spaghetti-Western.
Schon nach wenigen Sekunden haben sich Holger und Albert in einen neuen Streit verwickelt, man ist sich mehr als uneinig darüber, in welchem Film Bud Spencer gesagt hat: »Der hat doch weniger Hirn im Kopf als ein Spatz Schmalz im Knie.« Marie bleibt verschwunden, das vorwurfsvolle Klimpern von leeren Gläsern wird lauter. Holger gibt bald auf: »Okay, meinetwegen, Albert, es war in Zwei Himmelhunde auf dem Weg zur Hölle , hast gewonnen.« Aber Albert weigert sich, diesen Sieg gebührend auszukosten. Es macht ihm keinen Spaß, Recht zu haben, wenn sein Publikum unvollständig ist.
»Ich schau mal nach Marie«, erbarme ich mich
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