Betreutes Trinken
Rücken. »Wo ist eigentlich dein Gunnar abgeblieben?«
Katja lächelt mich zuckersüß an, ich nehme ihr das Bierglas ab und trinke es in einem Zug halbleer. »Wahrscheinlich bei mir zu Hause. Der war total müde, der kam ja gerade aus Pforzheim.«
Katja nickt verständnisvoll, Vladimir nickt auch. Etwas mitleidig oder eher verachtend. Wieder ist er der General, dem gerade über einen Deserteur Bericht erstattet worden ist, dem er von vornherein kein Durchhaltevermögen zugetraut hatte.
Ich nehme Gunnar in Schutz, weil es Gunnar ist, und so dankbar ich Vladimir auch bin, er ist nicht mein Chef: »Ey, Pforzheim liegt … irgendwo da unten.«
»Ja, ist eine weite Strecke. Glaube ich«, murmelt er, und bevor wir unsere kläglichen Geographiekenntnisse noch weiter ausbreiten können, fällt Katja ein: »Mist, dann muss ich wohl doch später die erste Bahn nehmen. Nach Hause. Zu Andi.«
»Quatsch, du schläfst bei mir. Ich habe ja noch die Couch.«
Katja umarmt mich: »Danke, ich dachte, du fragst nie.«
So bin ich. Lasse mich eher für meine Selbstlosigkeit bewundern, als den Moment zu zerstören und zuzugeben, dass ich ohne Katjas Ersatzschlüssel gar nicht in meine Wohnung hereinkomme.
Sie küsst mich auf die Nase, dann stolziert sie zurück an die Theke, denn als Interimskönigin hat sie noch eine Menge flüssiges Gold in ihrem Reich zu verteilen.
»Oh, gerade kam SMS von Marie«, fällt Vladimir ein. Er hält mir sein Handy vor die Nase.
» Raffi war nur kaputt. Sind morgen wieder da. Schließt die Kasse ein. Gruß, M.«
»Kaputt klingt nicht so gut, klingt wie zerbrochen«, wertet Vladimir die Botschaft pessimistisch aus, aber ich bin bester Dinge:
»Ach Vladi, sie schreibt ›nur kaputt‹, im Sinne von … müde.«
Vladimir zieht seine linke Braue hoch, es sieht aus, als würde eine besonders fette, haarige Raupe sich im Modern Dance versuchen: »Ah, nur müde. So wie dein Freund, genau. Ja genau, so sah er mir aus, der Chef … müde.«
Ich weiß gar nicht, was mich an Vladimirs Worten gerade am meisten stört. Es ist nicht die Brauenraupe, obwohl er diese Gesichtsgymnastik auch nicht unbedingt weiterverfolgen sollte:
»Vladimir, übst du dich in Sarkasmus?«
Er brummt »Natürlich. Du kennst mich. Ich bin ein großer Komiker.«
Ja, und Raffi war entsetzlich müde. So wie Gunnar. Wir sollten bei Albert, dem Experten, bei Gelegenheit mal nachfragen, ob es eine ansteckende Form von Narkolepsie gibt. Aber im Augenblick gibt es Wichtigeres zu tun für die Wächter der Nacht: Vladimir zeigt auf eine leicht bekleidete Nachtschwärmerin, die sich an Holger vorbeischleichen will.
»Die Dame«, röhrt er ihr zu, »wenn du schon sparst an Stoff für die Bedeckung deiner Brüste, dann hast du doch bestimmt übrig Geld für Eintritt, ja?«
Manche Menschen sind noch nicht bereit für den feinsinnigen Humor des ganz großen Komikers. Entrüstet schaut die Angesprochene zu Vladimir auf, ich verstehe nun, dass sie mit ihrer Garderobe nur von ihrem Frettchengesicht ablenken wollte: »Ey Typ, hast du nichts Besseres zu tun, als mir auf die Titten zu glotzen?«
Jeder andere Mann würde jetzt entweder ausfallend werden oder sich in Grund und Boden schämen. Aber unser Vladimir tickt eben anders. Nach einem weiteren, abschätzenden Blick auf die körperlichen Vorzüge des Mädchens urteilt er knapp: »Doch, bestimmt.«
»Chauvischwein«, kreischt Frettchengesicht, wirft aber einen Fünfer auf Holgers Tisch und rauscht ab auf die Tanzfläche.
»Hey, du bekommst noch was zurück!«, ruft Holger ihr hinterher, ich schnappe das Zwei-Euro-Stück aus seinen Fingern und stecke es Vladimir in die Manteltasche.
»Hier, das haste dir verdient, du Ladykiller.«
Vladimir kneift die Augen zusammen und sagt ganz ernst: »Ich habe niemals gekillt eine Lady.«
Dann folgt er der Frau, vielleicht, um ihr das Wechselgeld zu geben, aber viel wahrscheinlicher, um weg zu sein.
»Manchmal macht er mir Angst«, spricht Holger meine Gedanken aus, fügt aber eine persönliche Anmerkung hinzu: »Und ich arbeite beim Finanzamt.«
»Weitermachen«, befehle ich dem Schatzmeister.
Und wir steuern den Kahn durch die Nacht bis in den Morgennebel. Um fünf Uhr stolpern Katja und ich in ein Taxi. Zwölf Stunden nach der »Meuterei auf dem Mädchentag« kriechen wir die Treppe zu meiner Wohnung hinauf, und ich bin so glücklich, endlich ins Bett fallen zu können, dass ich im ersten Moment gar nicht bemerke, dass niemand dort
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