Betreutes Trinken
fürchterliches Missverständnis war, Raffi ist gar nicht ohnmächtig geworden, sondern er hat nur so getan, aus …Übermut? Langeweile?
Telefone anstarren bringt alle auf blöde Gedanken, aber es gibt einen, der ihn aussprechen muss. »Also, im Grunde sehe ich zwei Hauptprobleme«, seufzt Harald, »ich bin hundemüde und viel schlimmer: ich werde langsam wieder nüchtern. Entweder trinke ich jetzt noch ein Bier, oder ich fahre nach Hause.«
»Kein Bier, ich habe gerade alle Gläser gespült«, bestimmt Toddy.
»Luxusgejammer«, attestiert Katja träge. Toddy lässt den Affront unbeantwortet, schläfrig wischt er am Zapfhahn herum. Dabei ist es noch gar nicht so spät. Es fühlt sich nur so an, weil das Warten sich so unerträglich lange hinzieht. Das ist keine Beschäftigung für einen Freitagabend, schon gar nicht für einen frühen Samstagmorgen. Haupteinnahmetag.
Wenn Raffi auf die Abrechnung guckt, kriegt er einen Herzinfarkt.
Und Marie ebenfalls. Das darf nicht sein, und wenn die Bürger von »Dead Horst City« verzagen, ist die Zeit für Super-Doki gekommen:
»Toddy, Katja hat Recht. Gib Harald ein Bier, es ist erst kurz nach zwei, verdammt. Und dann machen wir die Tür wieder auf, sonst geht der Laden schneller pleite, als Raffi saufen kann.«
»Genau, mach mir gleich auch einen Gin Tonic mit, aber einen großen«, stimmt Albert mir völlig uneigennützig zu.
»Warte, Toddy macht fürchterliche Longdrinks, lass mich das übernehmen.«
Katja sieht noch besser hinter der Theke aus, wenn Marie nicht neben ihr steht. Bevor ich das zu Ende denken kann, teile ich allen Mitgliedern des ehemaligen Reinigungsteams lieber neue Jobs zu, die ihren Talenten eher entsprechen: »Los, Albert an die Plattenteller. Harald, du trinkst am besten einfach weiter, das wirkt motivierend. Holger, du könntest dich an die Kasse setzen und den Eintritt übernehmen.«
»Wofür Eintritt? Wir nehmen nie Eintritt, wenn ich Musik auflege«, grummelt Toddy, aber gleichzeitig reicht er Holger die Kassette mit dem Wechselgeld.
»Hey, wir haben eine Stunde verloren. Wir müssen die Kohle wieder reinholen, Leute«, schwöre ich die Truppe ein, »und wenn dich jemand fragt, Holger, es ist eine Benefiz-Veranstaltung für anonyme Narkoleptiker.«
Toddy schließt die Tür auf, Albert dreht die Anlage voll auf: Who will save Rock’n’Roll ? will der Sänger dringend wissen, und ich kann ihm nur antworten: Wir versuchen es, wenigstens für heute Nacht.
Zufrieden beobachte ich, wie bereits die ersten Nachteulen wieder durch die Tür lugen. Sie haben die letzte Stunde nur an der Pommesbude überbrückt und darauf gewartet, dass die Kneipe wieder aufgemacht wird, und zwar von Doris Kindermann, Visionärin, Strategin und neuerdings auch Jobvermittlerin für Aussteiger aus der Reinigungsszene. Ihren ersten Charity-Event meistert die Society-Lady erwartungsgemäß mit natürlicher Herzlichkeit. Für jeden neuen Besucher hat sie eine ganz persönliche Begrüßung parat:
«Ey, kein Fremdbier mit in die Kneipe nehmen, ich glaube es nicht, Alter!«
»Ja, wenn dir drei Euro Eintritt zuviel sind, dann geh doch ins ›Luftschloss‹feiern, da kriegste auch einen Becher Sauerstoff für das gleiche Geld.«
»Hey Miriam, auch schon hier? Schäm dich, dass du die Band verpasst hast. Die waren zum letzten Mal heute hier, denke ich.«
»Wie der DJ heißt, willst du wissen? Warum, willst du das an deine Kollegen twittern, oder was? Der DJ heißt Onkel Albert und erfüllt keine Musikwünsche. Rein mit dir!«
Nie hätte ich gedacht, dass es soviel Freude bereiten kann, Gutes zu tun.
Und meine Bemühungen werden belohnt, die Gäste respektieren mich als Türsteher, zumindest lachen sie dreckig. Nicht so herzhaft und ausdauernd, als wenn Raffi hier stünde, aber wenn ich mich ein bisschen einpöbele, könnte es für die nächsten vier Stunden ausreichen.
Eine Hand, nein, eine Tatze, lässt sich auf meiner Schulter nieder, und eine tiefe Stimme flüstert mir das schönste Kompliment ins Ohr, dass ich je gehört habe: »Ah, doch eine, die Kopf nicht ausgeschaltet hat. Gut gemacht, Doris.«
»Danke, Vladimir.«
»Ja, hilft nie, nichts zu tun, wenn Freitagabend ist. Macht nur alle traurig. Und arm.«
Hauptsache irgendetwas tun, will ich zustimmen, aber da muss ich an Kira denken und an Montag. Das geht jetzt nicht. »Wenn überhaupt, denk an etwas Gutes, Schönes, Doris Kindermann, zum Beispiel an …«
Ein eiskalter Dolch aus Glas bohrt sich in meinen
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