Betreutes Trinken
gegen.
Ich könnte mir die Zähne putzen bis zum Sonnenaufgang. Ein Blick aus dem Badezimmerfenster bescheinigt mir, dass ich auch diese Möglichkeit verpasst habe. Ich gehe ins Wohnzimmer. Schöner Mann schläft. Gehe ins Schlafzimmer: Stinkende Frau schnarcht. Wiederhole den Vorgang mehrfach, und mir fällt ein, dass es ein untrügliches Symptom für Wahnsinn ist, wenn man ständig dasselbe tut, aber ein anderes Ergebnis erwartet.
Ich bin definitiv wahnsinnig verliebt und wahnsinnig aufgekratzt. Und folglich bin ich gar kein überflüssiges Rad an irgendeinem Wagen, sondern eher eines von diesen winzigen Teilchen, ein freies Radikal, das angezogen von zwei Elektronen zwischen ihnen hin- und herspringt, ich bin …
Das Telefon rettet mich.
»Kindermann«, flüstere ich in den Hörer.
»Doki, ich bin’s. Ludi.«
Ich verlasse mein Magnetfeld und nehme das Telefon mit ins Badezimmer.
»Hey, Ludi, geht’s dir gut? Bist du zu Hause?«
»Ja, ja. Wo sonst? Vladimir hat mich doch hergefahren. Cooler Typ, von welcher Geisterbahn habt ihr den abgeworben?«
Seinen ätzenden Humor hat Ludolf Schwenke-Großmann ins neue Lebensjahr mitnehmen können, wie schön.
»Ludi, jetzt pass mal auf, du darfst niemandem sagen, dass du heute in der Kneipe warst. Gestern, meine ich.«
»Ist mir klar, Doki, schon klar.«
»Gut. Danke.«
Ludi sagt nichts. Also ist eine lässige Abschiedsgrußformel meinerseits angesagt:
»Dann sehen wir uns nächste Woche im Anker, oder Ludi?«
»Nein. Da komme ich nie wieder hin. Was soll ich da, bei den Hohlbirnen und der ollen Kira, der Spaßbremse?«
Diese Frage könnte ich mir ebenfalls stellen, aber ich weiß, jetzt ist mein ganzes pädagogisches Potenzial gefragt. Schwierig, wenn man vollkommen übernächtigt auf seinem Klo sitzt und nichts zu rauchen hat.
Also sage ich Ludi einfach die ungeschminkte Wahrheit: »Ludolf, du musst weiter in den Ankerkommen. Wir brauchen dich da. Nicht nur wegen der Statistik, ich meine, wenn du nicht mehr kommst, schöpft Margret noch Verdacht, und Kira petzt am Ende doch noch, ich meine …«
»Nein.«
Ich versuche etwas anderes. »Ludi, was soll ich denn da machen ohne dich?«
»Du willst doch auch da weg. Kündige doch einfach, sofort.«
Die Idee ist so schön, so naheliegend, kommt quasi direkt auf mich zugetrabt, auf vier Pferdefüßen: »Ludi, es gibt so etwas wie eine Kündigungsfrist. Außerdem muss ich Kira im Auge behalten. Ich muss meine Miete zahlen. Und meine Kippen.«
Ich höre, wie Ludi am anderen Ende der Leitung Rauch ausatmet, der kleine Sadist.
»Okay«, sagt er schließlich, »ich komme wieder in den Anker, unter einer Bedingung.«
Ich bin gespannt. Was will er haben? Das halbe Königreich und die Hand meiner jüngsten Tochter?
»Ich will deine Freunde«, flüstert Ludi.
»Was?«
»Doki, wenn ich je wieder in den Anker kommen soll, dann möchte ich mit deinen Freunden kickern. Mit Raffi. Und Harald. Und Marie. Und die Frau, die den Kuchen gebracht hat, die darf auch mitmachen, die ist was fürs Auge. Euer Frankenstein, der Vladimir, der kann doch bestimmt auch kickern, oder?«
Ach so: er will das ganze Königreich und die Hände aller Untertanen.
Ich bin ganz kurz davor, den Plastikfarn vom Badezimmerregal in Klopapier zu wickeln und ihn mir anzuzünden. Der kleine Ludolf will mit meinen Freunden spielen. Wie stellt er sich das vor?
»Die sind alle zu alt, um in den Anker zu kommen.«
»Mensch Doki, bist du besoffen? Klar bist du das. Aber ich meinte, ich könnte mich ja mit denen in so einer normalen Kneipe treffen oder in einem Café, am Nachmittag, oder nicht? Du kannst natürlich auch kommen, ich meine, du sollst sogar, also bitte: sag ja.«
Ich stelle mir das vor: Marie, in einer Gaststätte in der Innenstadt, völlig verunsichert, weil sie vor und nicht hinter einer Theke steht. Harald, in seiner Minenräumer-Uniform, in der einen Hand einen Milchkaffee. Katja am Kicker, wie sie Ludi mit ihrem Vorbau ablenkt, und Raffi. Nein, Raffi wach am helllichten Nachmittag, das übersteigt meine Vorstellungskraft.
Wie es Raffi wohl geht? Sollte ich Ludi erzählen, was passiert ist mit seinem großen Helden? Auf gar keinen Fall.
»Ludi, ich weiß nicht.«
»Du kannst sie doch wenigstens mal fragen, oder Doki?«
Ludolf klingt, als wäre er gestern fünf geworden, nicht sechzehn. Ich will gar nicht mehr rauchen, sondern ihm einen heißen Kakao machen, ihn in eine Wolldecke wickeln und durchknuddeln.
»Ja«, sage ich zu
Weitere Kostenlose Bücher