Betreutes Trinken
Nein, hinter jeder Angst steckt auch ein Funken Neugierde, der entzündet werden will: »Ach komm, du Weichei! Willst du gar nicht wissen, wie der Trick geht?«
Gunnar schüttelt den Kopf, sehr nachdrücklich. Vladimir verrät sein Geheimnis trotzdem.
»Luft anhalten und mir folgen.«
Ich probiere es aus.
Durch den Flur, die Küche – in der Kneipe will ich atmen. Großer Fehler.
»Noch nicht«, warnt Vladimir, aber zu spät. Ich werde fast erschlagen von dem Gestank. Zwei Bier reichen aus, um das nächtliche Grundaroma im »Horst«ignorieren zu können. Aber der Dunst, der mir jetzt entgegenschlägt, konnte acht Stunden reifen. Es ist eine beißende, atemwegezerfressende Mischung aus nasser Asche, Bier, fiesestem Schweiß und Moder.
Als würde man eine ägyptische Grabkammer öffnen, in der vor zweitausend Jahren Oktoberfest gefeiert wurde. Hatte Gunnar nicht gesagt, die Punks hätten nur versucht, Andi anzupissen? Ich halte mich an der Theke fest, muss ich aber gar nicht, denn meine Hände bleiben einfach an der Oberfläche kleben. Vladimir reicht mir keine Sauerstoffflasche, sondern einen Schraubenzieher.
»Damit öffnest du die Fenster«, erklärt er. Ich ziehe mir mein T-Shirt über den Mund und renne zur gegenüberliegenden Seite des Raumes.
»Gute Idee«, lobt der Profi, »schöne Unterwäsche.«
Wir drehen die Schrauben an den Rollläden locker, öffnen die Fenster, Luft, endlich Luft. Und Tageslicht. Das sollten wir wieder ausblenden. Die Kneipe sieht fürchterlich aus.
»Was ist hier gestern passiert?«, presse ich hervor. Vladimir zuckt mit den Achseln.
»Also, der Dreck ist normal für einen Samstag.«
Nein. Dieser Dreck ist selbst für den Tag nach der Apokalypse nicht normal. Es sieht aus, als wäre ein Flugzeug in eine Schwarzbrennerei mit angeschlossenem Maststall gestürzt.
Der Boden ist von Müll bedeckt, zumindest nehme ich an, dass sich unter der Kleisterschicht noch der Boden befindet. Zwei Barhocker sind zerbrochen; es würde mich nicht wundern, wenn wir zwischen dem Holz Leichenteile fänden. Vladimir klopft mir aufmunternd auf die Schulter: »Keine Sorge, wir machen Musik an, dann geht es leichter. Die Luft ist jetzt besser, Gunni kann helfen kommen, nicht?«
Oh ja, Gunni kann so was von helfen kommen. Er sollte einen Benzinkanister mitbringen, damit wir den Laden einfach abfackeln können. Und da steht er auch schon an der Theke, leider ohne Kanister. »Mein Gott, Vladimir, wie hältst du das aus?«
Eine sehr gute Frage, Vladimir wippt mit den Füßen: »Ach, wir teilen das auf. Mal putze ich, mal Marie, das meiste macht Raffi. Er ist der Beste«, sagt er bewundernd. Die Frage, wie der Chef zusammenklappen konnte, hat sich erledigt. Eine ganz andere drängt sich auf: »Vladimir, wo fängt man hier an?«
»Zuerst das Grobe, dann den Schnickschnack«, erläutert er gewohnt detailverliebt und drückt mir den Besen in die Hand, den wir bei unserer gestrigen Putzaktion für Weicheier geflissentlich ignoriert haben. Ein Besen von beachtlicher Größe. Profi-Equipment, ganz klar. Das Teil hat Stahlborsten.
»Gunni, vielleicht kannst du die Theke klarmachen. Unter der Spüle steht Seifenlauge, mischt du eins zu zehn. Ich kümmere mich um Waschraum.«
Gunnar und ich nicken den Plan ab, ahnend, dass wir das große Los gezogen haben, denn die unerträgliche Kopfnote des Gestanks rührt von den Toiletten her.
Ich fege. Ich räume. Ich lege Erdschichten frei. Ich unterdrücke den Würgereiz. Zum Glück stellt Vladimir endlich den CD -Player an, und es tönt hämisch aus den Boxen: Will You Still Love Me Tomorrow? , allerdings in der Version eines alten Punkreptils, der Beat gibt mir die Besenführung vor. Eins, zwei, drei, und nicht auf die Vier übergeben.
»Ich bevorzuge sonst moderne Klassiker«, gesteht uns Vladimir seine Vorlieben, »ich hoffe, die Auswahl kommt euch entgegen.«
Pfeifend trollt er sich zu den Toiletten, der nächste Song ist von der Rollins Band. Es fegt sich noch besser dazu. Motörhead, der Dreckberg wird höher, an einer Stelle kann ich den Boden sehen. Als das Intro von Run to the Hills von Iron Maiden erklingt, muss ich grinsen. Ich habe Vladimirs Putzmuster nicht nur erkannt, sondern intuitiv übernommen.
»Ich liebe dich!«, übertönt Gunnar den Krach. Jetzt bin ich aus dem Takt gekommen.
»Ich dich auch«, brülle ich zurück. Wo der Eckzahn in der Nachmittagssonne funkeln könnte, nur für mich, sehe ich schwarz.
»Lass uns die Einzelheiten später
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