Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
Gemeinschaftswerk fällt, das auf dem Herd brodelt wie ein Schlammvulkan.
Plötzlich öffnet sich die Schranktür und Günther tritt mit einem für seine Verhältnisse zutiefst entschlossenen Gesichtsausdruck heraus: Sein Blick, der sonst aus den Tiefen des unendlichen Weltalls mit milder Güte, aber nicht eben übermäßigem Interesse auf unseren Blauen Planeten fällt, ist plötzlich klar, hart und eindeutig. Vor mir steht ein Mann mit einem Plan.
Zu blöd, dass er nicht sprechen kann. Oder will. So genau weiß man das bei Günther nicht. Wahrscheinlich telepathiert er sich den ganzen Tag die Zirbeldrüse fusselig und ich bin nur zu blöd, es zu merken.
Aber so langsam schwant mir etwas, denn Günther holt zwei Teller aus dem Schrank und stellt sie auf den Tisch.
»Günther«, frage ich, »möchtest du etwa Annika heute zum Essen einladen?«
Günther nickt und ich biete ihm im Überschwang der Gefühle high five an, die er allerdings ignoriert. Nicht übermütig werden, Erdling, sagt sein Blick.
Kurze Zeit später sitzen die beiden am Esstisch, ich habe ihnen ein Kerzchen hingestellt und mich ansonsten auf den Beobachtungsposten hinter der Durchreiche verfügt.
Annika lässt vernehmen, dass nach dem Essen unverzüglich mit Zärtlichkeiten zu rechnen ist, greift zum Löffel und lässt ihn angesichts des Servierten augenblicklich wieder sinken.
Günther lächelt fein, schaut gen Annika, und wenn sein Blick auch weniger ihr als einem fernen Land hinter den Spiegeln gilt, so sticht Günther doch im Hier und Jetzt seinen Löffel in den rostbraunen Sud, führt ihn resolut zum Mund, und während er, ohne mit der Wimper zu zucken, Torfnudeln in sich reinschaufelt, dass ihm die Soße nur so am Kinn herunterläuft, beendet Annika wegen hygienischer Bedenken ganz offiziell ihre Beziehung. Und zwar mit sofortiger Wirkung, worauf Günther sofort den Löffel fallen lässt und sich aufs Sofa legt, wo er nach wenigen Sekunden einschläft.
12 Ich habe mich freiwillig gemeldet. Ich melde mich immer freiwillig, wenn es irgendwo was zu feiern gibt. Beruflich, meine ich, als Zivildienstleistender.
Mittlerweile habe ich alle gesellschaftlichen Veranstaltungen durch, die für Menschen mit geistiger Behinderung, deren Familien und Betreuungsbagage überhaupt angeboten werden: Ich war auf Festen von Betreuungseinrichtungen, Matineen von integrativen Vereinigungen, bei Förderschuljubiläen und Grillabenden von Selbsthilfegruppen, aber Sarah habe ich immer noch nicht gefunden.
Stattdessen bin ich ein allseits hochgeschätzter Kollege und Musterzivi geworden, weil ich mich gegen lächerliches Entgelt ganze Sonntage lang mit der Schürze hinter den Grill stelle und Würstchen wende. Oder zum Tag der Offenen Tür die Buttonmaschine bediene. Oder die Besucher anschließend nach Hause fahre.
Ich bin einer derjenigen, deretwegen die Hauptamtlichen sagen: »Das Gesundheitssystem würde zusammenbrechen ohne Zivis.«
Man wird schneller Teil des Systems, als man glaubt.
Bloß heute ist man nicht zufrieden mit mir, und der Grund ist ein vollkommen alberner: Auf meinem Shirt ist ein durchgestrichenes Kreuz drauf. Dabei wollte ich beim Gruppenfoto ohnehin nicht in die erste Reihe.
»Was macht das denn für einen Eindruck?«, hat die Chefin der Behindertenwerkstätte gebarmt.
»Weiß nicht, vielleicht Meinungsfreiheit?« habe ich geantwortet, und jetzt guckt sie wieder so, als habe ich sie provozieren wollen. Frau Diepenkötter ist schnell der Meinung, jemand wolle sie provozieren. Dabei hatte ich eigentlich waschen und ein anderes Shirt anziehen wollen, aber Oma Wittrich hatte sich mit ihrem Scrabble-Brett vor der Tür zum Waschkeller postiert, und da muss jeder vorbei, der die Waschmaschine benutzen will.
Deswegen musste ich heute Morgen mein Bad-Religion-T-Shirt anziehen, obwohl der Superintendent zu Besuch kommt. Der Superintendent ist Chef des Kirchenkreises, und sein Titel darf keinesfalls englisch ausgesprochen werden, aber das hat keiner gewusst und jetzt freut sich die ganze Behindertenwerkstätte auf den Besuch eines englischen Polizisten.
Die Behindertenwerkstätte ist ein evangelischer Verein, was aber kaum ins Gewicht fällt, wenn man von gelegentlichen theologischen Spezialaufträgen absieht: Im November tüten sie die Karten für die Weihnachtsspendenkampagne ein und bauen eine mild dekonstruktivistische Krippe für den Weihnachtsgottesdienst.
Normalerweise bin ich eingeteilt, zur »arbeitsunterstützenden Betreuung«,
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