Betreutes Wohnen: Ein WG-Roman (German Edition)
was nichts anderes bedeutet, als dass ich ausgewählte Mitarbeiter zur Eile antreiben soll. Deswegen bin ich Günthers Werkgruppe zugeteilt worden, aber der hat sofort seine Spezialkräfte eingesetzt, um meine motivatorischen Impulse zu neutralisieren. Er schaut einen aus seinen kleinen, leicht geschlitzten Augen an, und alles, was man sich an Aktivitäten vorgenommen hatte, verpufft augenblicklich in einer watteweichen Wolke tiefster Entspannung.
Meist liege ich auf dem Tisch und schaue Günthers Werkgruppe beim Arbeiten zu. Das ist schön, denn es herrscht stets die heitere Ruhe einer Robbenkolonie kurz nach der Fütterung. Ab und zu brummt einer der putzigen Gesellen in die Stille hinein, und dieser Ruf wird von seinen Artgenossen mit einem wissenden Seufzer beantwortet, man kratzt sich selbst oder dem Nebenmann zärtlich am Kopf, und dann ist schon wieder Zeit für ein Nickerchen.
Heute versuchen sie, Badewannenanker mittels Telepathie in die dafür vorgesehenen Verpackungen zu hieven, aber die Dinger sind wohl zu schwer und Günther hat das Experiment eben abgebrochen, indem er den Kopf auf den Tisch gelegt hat und eingeschlafen ist. Seine Kollegen haben es ihm gleichgetan, bloß ich halte einsam Wacht, denn ich trage ja die Verantwortung hier.
Annika streckt den Kopf durch die Tür und fragt, ob der Geheimagent schon da ist.
»Superintendent«, sage ich. »Er ist ein Superintendent.«
Als sie die schlafenden Männer sieht, lässt Annika die Augen rollen, schleicht um den Tisch und knallt ihren Jungs mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf.
»Aufstehen«, brüllt sie, aber die Herren rühren sich nicht.
»Jetzt hast du sie totgeschlagen«, sage ich, aber Annika meint bloß: »Verarschen kann ich mich selber.« Dann fängt sie an, die Anker zu verpacken.
Mario protestiert, weil es ihm an seinem Arbeitsplatz eindeutig zu hektisch wird. Annika kann sich nicht entscheiden, ob sie ihn schlagen oder küssen soll, deswegen tut sie beides, und Mario ist ganz offensichtlich mit beidem einverstanden, denn er ist ein Mann, der die erotische Abwechslung zu schätzen weiß.
»Ich bin immer noch sauer und dat weißt du auch«, ruft sie ihm zu, aber Mario zuckt bloß mit den Schultern und schaut sie mit seinem Mackerblick an. Mario kommt zwar aus einem kleinen Weiler im Vorgebirge, aber schon bei seiner Geburt muss ihn eine mediterrane Aura umflirrt haben und so hat seine Mutter ihn nicht Heinrich und Walter wie seine Brüder genannt, sondern Mario. Nach dem Betreiber der einzigen Eisdiele im Ort, wie böse Zungen behaupten, aber das ist Quatsch, denn der hieß Pino, sagt Marios Mutter. Mit seinen behaarten Armen und den recht markanten Gesichtszügen unter schwarzem Bartschatten sieht Mario viel erwachsener aus als die meisten seiner eher kindsgesichtigen Brüder in Trisomie. Ein bisschen wie Lino Ventura, nur eben mit Down-Syndrom, und so benimmt er sich auch. Außerdem raucht er, was extrem wenig Leute mit Downsyndrom tun.
Eine Klingel ertönt, um die Mittagspause anzuzeigen. Mario, Günther und René erheben sich wortlos und wackeln Richtung Caféteria.
Dort will die Diepenkötter eine Ansprache halten, weil der Superintendent ja gleich kommt. Sie verheddert sich, weil sie dessen Titel mittlerweile auch englisch ausspricht und weil sie immer so gewissenhaft sein muss. Sie will ihrem Publikum einen kleinen Überblick über Organisation und Funktion von Kirchenkreis und Landeskirche geben, damit sie wissen, mit wem sie es gleich zu tun haben, aber diese Informationen stoßen nur auf mäßiges Interesse.
Wir könnten jetzt Fragen stellen, sagt sie.
Horsti schnipst mit dem Finger und fragt, ob er auch Pommes statt der Salzkartoffeln haben kann.
Eine lebhafte Diskussion entsteht und Horsti gelingt es spielend, eine absolute Mehrheit für sein Pommesbegehren zu organisieren.
»Aber du arbeitest doch gar nicht hier«, sagt Frau Diepenkötter schließlich. Das stimmt.
Käpt’n Horsti hält sich bloß für so eine Art freien Mitarbeiter aller Behindertenwerkstätten im Umkreis, weil er dort überall mal gearbeitet hat, aber eben nie besonders lange. Horsti fühlt sich nämlich sehr leicht eingesperrt, und wenn das passiert, fängt er an, mit Sachen oder Mitarbeiter herumzuwerfen. Mittlerweile schaut Horsti nur mal rein, wenn er Hunger hat, und alle sind froh darüber.
Er verbringt seine Tage lieber wie ein in die Jahre gekommener Huckleberry Finn, sitzt am Fluß und angelt ohne Köder, spielt Karten mit den
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