Betrogen
wie bewundernswert sie sich hielt.
Alles Blödsinn. Rein äuÃerlich mochte sie vielleicht wie ein unerschütterliches Bollwerk seelischer Stärke wirken, aber tief drinnen ging alles in die Brüche. Sie drehte die Dusche voll auf. Während der harte Wasserstrahl ihr gequältes Stöhnen übertönte, lieà sie sich gehen und schluchzte, bis ihre Kehle wund war. In der gefliesten Kabine, wo es keiner hören konnte, weinte sie bitterlich um das, was sie verloren hatte, und um den eigenen Anteil, den sie an dieser Tragödie hatte.
Nachdem sie sich vorübergehend ausgeweint hatte, verlieà sie die Dusche und versuchte, sich wenigstens provisorisch zu schminken. Vergeblich. Sofort spülten die Tränen alles wieder weg. Mechanisch zog sie sich an. Noch ihre kleinste Bewegung erinnerte an eine Marionette. Sie schien den Anweisungen eines unsichtbaren Hypnotiseurs zu folgen und ganz automatisch alles zu tun, was ihr der Verstand nahe legte.
Es war ihr ein Rätsel, wie sie auch nur die einfachste Entscheidung treffen sollte, geschweige denn, ein Problem vernünftig angehen oder alltägliche Angelegenheiten regeln sollte. Wäre sie je wieder im Stande, den Kopf auf ein Kissen zu legen und einfach einzuschlafen? Oder aus Freude am Genuss
etwas zu essen? Oder eine Party zu besuchen, Sport zu treiben oder zu lachen? Würde das Leben je wieder eine Freude für sie bereithalten?
Nicht, solange der Tod ihrer Zwillingsschwester ungerächt war.
Als sie jetzt in diesem vollgestopften Raum im Polizeipräsidium saÃ, wiederholte sie im Stillen den Schwur, den sie vor kurzem ihrem Spiegelbild im Bad laut zugerufen hatte: Der Tod ihrer Schwester würde gerächt werden, um jeden Preis, sogar, wenn es sein musste, bis zum letzten Atemzug.
Wie ein glühendes Kohlenstück schmorte der Hass auf den Mörder in ihrer Brust. Sie war nie ein rachsüchtiger Mensch gewesen und konnte aufrichtig sagen, dass sie noch nie jemanden gehasst hatte. Nicht gemocht, das schon, manchmal sogar sehr intensiv, aber auf diese Weise hatte sie noch nie einen anderen Menschen gehasst. Nie hatte sie den Wunsch gehegt, mit eigenen Augen zu sehen, wie ein anderer Mensch den letzten Atemzug tat. Sie war selbst entsetzt, wie sehr sie diesen gesichts- und namenlosen Mörder als Erzfeind empfand.
»Hattest du heute einen Kunden?«
Jems Frage riss sie aus ihren bösen Gedanken. »Zum Glück nicht.«
»Und hast du Leute, die für dich einspringen?«
»Gott sei Dank. Ich habe ihnen erklärt, dass ich vermutlich mehrere Wochen frei nehmen werde. Unser Terminkalender wird gerade überprüft und geändert. Es wird schon gehen. Das Geschäft wird nicht darunter leiden.«
Erregt tippte Jem die Fingerspitzen zusammen. »Melina, ich kann nicht glauben â«
»Was?«
»Ich kann nicht glauben, dass Gillian eine solche Nummer abgezogen hat. Dass sie in deine Rolle geschlüpft und gestern Abend an deiner Stelle hingegangen ist. Ein derart leichtsinniges und impulsives Verhalten passt nicht zu ihr. Das ist eher typisch  â«
»Für mich«, sagte sie und beendete damit den Satz an seiner Stelle.
»Das war nicht als Kritik gemeint.«
»Ist schon gut. Ich mache mir selbst Vorwürfe. Wenn ich noch einmal die Chance hätte, würde ich diesen Vorschlag nie machen.«
»Hat Gillian so etwas schon mal gemacht?«
»Wie schon gesagt, früher.«
»Aber einen Kunden hat sie noch nie an deiner Stelle übernommen?«
»Nein, das war eine Premiere.«
»Und warum gerade gestern Abend?«
»Aus keinem besonderen Grund, Jem. Es war ein Jux, ein spontaner Einfall von mir beim Mittagessen.«
Trotzdem wollte er ihre Erklärung nicht für bare Münze nehmen. »Wollte sie diesen Typen treffen, diesen Christopher Hart? Wollte Gillian unbedingt einen VIP kennen lernen? Einen Astronauten? Wie?«
»Es ging nicht um ihn, sondern um â«
»Ist ja egal«, unterbrach er, »ich will gar nicht darüber reden.«
»Es war eine alberne kindische Idee, für die ich die volle Verantwortung übernehme.«
»Die Idee kam vielleicht von dir, aber für ihr Handeln war einzig und allein Gillian verantwortlich. Sie hätte auch nein sagen können.«
Ihr riss der Geduldsfaden. »Sei doch nicht böse auf sie! Damals wirkte es wie ein harmloser Streich. Woher hätte sie wissen sollen,
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