Betrügen lernen
Leidensweg begleiten und einmal im Jahr an sein Schicksal erinnern.
Und ich bin der Schuldige. Ich bin der, der nicht eingegriffen hat. Die junge Frau wäre noch zu retten gewesen, wenn rechtzeitig jemand geholfen hätte, würde später in allen Zeitungen stehen. Ihre Verletzungen waren nicht sofort tödlich. Sie verblutete langsam und qualvoll über Stunden, weil er mit dem Messer eine besonders perfide Technik isländischer Walfänger angewendet hatte, und ich würde meines Lebens nicht mehr froh werden. Aber ich kann nicht, die Laute sind zu unheimlich, zu fremd, so, als gehörten sie zu einer anderen Form von Lebewesen, zu einer anderen Art.
Ich bin schlicht zu feige.
»Wir haben nichts gehört, nicht wahr, Schatz«, würden wir am nächsten Morgen noch im Schlafanzug und mit tiefen Augenringen der Polizei sagen. »Wir waren sehr müde und sind nach der langen Fahrt sofort eingeschlafen.« Der zerknitterte Kommissar würde seinen kleinen Notizblock zuklappen und sich mit resignierter Routine den anderen Hotelgästen zuwenden. Vielleicht würde er noch sagen: »Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, diesen Irren hätte niemand aufhalten können.«
Als ich am anderen Morgen auschecken will, steht vor mir ein übermüdet aussehendes Paar an der Rezeption. Ich nicke ihnen kaum merklich zu. Sie sehen in etwa so blass und erschöpft aus wie die Vampire in Quentin Ta rantinos Film »From Dusk Till Dawn«, nur nicht so origi nell angezogen. Als sie an der Reihe sind zu bezahlen, gestikulieren sie wild umher. Was ist denn jetzt wieder los? Nach der Aufregung in der Nacht gibt es offenbar schon wieder Stress. Es reicht. Der Mann kritzelt hektisch etwas auf einen Block und gibt ihn dem Portier. Sie nickt dazu. Das Paar tauscht ein paar grunzende, konsonantische Laute aus, dann legt er den Schlüssel auf die Rezeption.
Als ich drankomme, grinst der Portier mich an, beugt sich kumpelhaft rüber und sagt zu mir. »Die beiden haben das Zimmer neben ihnen bewohnt. Nachts sind sie dann wohl etwas aneinandergeraten, hat er hier auf den Zettel geschrieben und sich bei mir und den anderen Gästen dafür entschuldigt.«
Er spricht unangenehm laut und ist äußerst indiskret, denn das Paar hat sich erst wenige Schritte von der Rezeption entfernt. »Aber von dem Streit werden sie wohl kaum etwas mitbekommen haben, oder? Die beiden sind ja schließlich taubstumm, die hört man ja nicht«, sagt der Portier und lacht ein lautes vampirisches Lachen.
Der Pferdeflüsterer
Clara und Alex sitzen wieder im Auto, es ist noch eine lange Strecke bis nach Hause – die Kinder müssen sie auch noch abholen. Sie haben seine Mutter besucht und sind auf dem Rückweg, aber immer noch müde von der durchwachten Nacht im Hotel zwei Tage zuvor. Es regnet, die Autobahn ist dicht befahren, und das Anfahren und Abbremsen im stockenden Verkehr raubt ihm den letzten Nerv. Dazu der Dauerregen, der die abendliche Sicht erschwert. Alex tun die Augen weh. Durch die Wind schutzscheibe zu blicken erfordert viel Anstrengung.
»Ich muss mit dir reden«, sagt Clara. »Ich kann so nicht mehr weitermachen. Es geht nicht.«
Alex starrt in den Regen, muss plötzlich abbremsen und kommt gerade an der Stoßstange des Vordermanns zum Stehen. Irgendetwas klopft. Da klopft doch was.
»Für mich ist das eine große Belastung, weißt du. Ich glaube, du machst dir gar keine Vorstellung davon, was ich gerade durchmache.«
Alex nickt und macht einen angestrengten Gesichtsausdruck, denn er lauscht auf die Fahrgeräusche. Er bekommt dieses Klopfen nicht mehr aus dem Ohr. Wahrscheinlich ist es der Motor. Oder die Reifen haben einen Schlag abbekommen. Hier ist der Fahrbahnbelag noch nicht überall versiegelt, und Löcher gibt es alle paar Hundert Meter. So ein Schlag ist auf der Autobahn ziemlich gefährlich.
»Ich wünsche mir, mehr aufgehoben zu sein in dir und deinen Gedanken, stärker stattzufinden für dich, weißt du?«, sagt Clara. »Manchmal habe ich das Gefühl, ich komme in deiner Welt überhaupt nicht vor oder höchstens als Lustobjekt.«
Weint sie? Vielleicht. Nein, es ist wohl eher der Regen, der wie ein Trommelfeuer gegen die Scheiben tropft und mit einem schlürfenden Geräusch die Seitenfenster entlang nach hinten wegperlt.
Bei dem Auto ist die Inspektion längst überfällig. Das rote Servicelämpchen leuchtet mittlerweile nicht nur beim Anlassen auf, sondern ständig. Sogar Clara hatte ihn letztens mehrfach ermahnt, dass er sich wenigstens darum
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