Bettler 01 - Bettler in Spanien
Nebenwirkungen hervorrufen würde. Sie streckte die Hand aus und streichelte über Tonys ausladenden Hinterkopf, ehe ihre Hand schlaff und zuckend auf seinem dicken Nacken liegenblieb.
Joan Lucas platzte ohne zu klopfen ins Labor. »Miri! Tony! Der Spielplatz ist offen!«
Augenblicklich ließ Miri Neurotransmitter und Kommunikationstechnik sein. Der Spielplatz war offen! Alle Kinder, Normalos wie SuperS, warteten seit Wochen auf diesen Moment. Sie packte Tonys Hand und stolperte mit ihm hinter Joan her. Draußen ließ die leichtfüßige Joan mit ihren langen Beinen sie beide sofort weit hinter sich, aber kein Kind in Sanctuary benötigte einen Wegweiser, wenn es galt, den neuen Spielplatz zu finden: man sah einfach nach oben.
Der Plastikballon schwebte im Herz der zylindrischen Welt, fest mit dünnen, widerstandsfähigen Kabeln in der Achse der Orbitalstation verankert. Die Schwerkraft war hier so minimal, daß sich zumindest die Kinder fast wie im freien Fall fühlten. Miri und Tony drängten sich in den Lift, der sie nach oben brachte, zogen Fäustlinge und Socken aus Klettmaterial über und kreischten vor Vergnügen, als sie in den riesigen Ballon gekippt wurden. Sein Inneres war durchzogen von durchscheinend rosafarbenen, elastischen Plastikverstrebungen mit vielen undurchsichtigen Kästchen, in denen man sich verstecken konnte, und mit Nestern und Tunnels, die im Nichts endeten. Alles war mit weichen, luftgefüllten Handgriffen und breiten Klettbändern versehen. Miri warf sich mit dem Kopf voran in die Luft, flog quer durch einen Plastikraum und warf sich wieder zurück, wobei sie mit Joan zusammenprallte. Beide Mädchen kicherten und trieben langsam nach unten; sie hielten sich aneinander fest und quietschten schrill, als Tony und ein Junge, den sie nicht kannten, über ihren Köpfen hinwegzogen.
In Miris Hirn begannen sich die Fäden hektisch zu kräuseln: Von der Chaos-Theorie zu mythischen Bildern, über Engel und Flieger und Ikarus und Merkur-Astronauten und fliegenden Säugetieren zu Fluchtgeschwindigkeiten und Muskelstärke-Gewicht-Verhältnissen. Allerhöchste Glückseligkeit.
»Komm hier herein!« brüllte Joan über das allgemeine Gekreisch hinweg. »Ich muß dir ein Geheimnis verraten!« Sie packte Miri, drückte sie in eines der durchscheinenden schwebenden Kästchen und drängte sich hinzu. Im Innern des Kästchens herrschte geringfügig weniger Getöse.
»Miri, weißt du was?« sagte Joan. »Meine Mama ist schwanger!«
»T-T-Toll!« sagte Miri. Die Eizellen von Joans Mutter waren vom Typ r-14; ein Eindringen selbst in vitro schwer zu bewerkstelligen. Joan war dreizehn; Miri wußte, sie wünschte sich eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder mit derselben Hartnäckigkeit wie Tony ein Litov-Hall-auto-Am. »F-F-Freut mich f-für d-dich.«
Joan umarmte sie. »Du bist meine beste Freundin, Miri!« Sie drehte sich um und sprang schwungvoll aus dem Kästchen. »Fang mich!«
Das hätte Miri natürlich nie geschafft. Sie war viel zu unbeholfen, verglichen mit Joans Normalo-Beweglichkeit. Aber das machte nichts. Sie stürzte sich hinter Joan her und kreischte zusammen mit den anderen aus purer Lust am Kreischen, während sich unter ihr die Welt in Mustern aus Hydrofeldern und Kuppeln und Parks hinwegdrehte, die ebenso schön waren wie ihre Fäden.
Der Dienstag nach der Eröffnung des Spielplatzes war Gedächtnistag. Miri kleidete sich sorgsam in schwarze Shorts und schwarze Jacke. Sie spürte die melancholischen Gedankenfäden, die sich zu kompakten, flachen Ovalen spannen, so dunkel wie die Kleider der Menschen. Die religiösen Feier- und Besinnungstage in Sanctuary variierten von Familie zu Familie, manche feierten Weihnachten, manche hielten Ramadan ein, manche feierten Ostern, Jom Kippur oder Divali. Manche feierten gar nichts. Aber die beiden Ruhetage, die gemeinschaftlich begangen wurden, waren der Vierte Juli und der Gedächtnistag, der fünfzehnte April.
Versammlungsort war die mittlere Ebene. Man hatte den Park vergrößert, indem man über die ihn umgebenden superertragreichen Äcker vorübergehend ein Netzwerk aus rasch erstarrendem Plastikspray aufgebracht hatte, das stark und weitläufig genug war, um jeden Bewohner Sanctuarys aufzunehmen. Die wenigen, die ihre Arbeit nicht verlassen konnten oder erkrankt waren, verfolgten die Zeremonie auf ihren ComLinks. Eine Plattform für die Sprecherin erhob sich vor der Menge. Hoch über der Plattform schwebte der verlassene
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