Bettler 01 - Bettler in Spanien
unproduktiven ›Nutzern‹ in den Vereinigten Staaten den Lebensunterhalt zu ermöglichen, raubt man Sanctuary – als Ganzes und als Summe seiner Individuen – vierundsechzig Komma acht Prozent seiner jährlichen Produktivität im Wege eines legalen Diebstahles in Form von örtlichen und staatlichen Steuern. Dagegen können wir uns nicht wehren, nicht ohne Sanctuary selbst zu gefährden. Wir können nicht dagegen ankämpfen. Alles, was wir tun können, ist, uns daran zu erinnern, was das heißt – moralisch, praktisch, politisch und historisch. Und am fünfzehnten April jeden Jahres, wenn man uns unsere Geldmittel wegnimmt, ohne uns im Gegenzug etwas dafür zu geben, erinnern wir uns daran.«
Joans hübsches Gesicht war aufgedunsen und rotgefleckt. Sie hatte geweint! Miri versuchte sich zu entsinnen, wann sie zum letztenmal jemand weinen gesehen hatte, der so alt war wie Joan. Kleine Kinder weinten, wenn sie hinfielen oder am Terminal eine Aufgabe nicht lösen konnten oder einander über Spielsachen in die Haare gerieten. Aber Joan war dreizehn! Die Erwachsenen versuchten, sie mit freundlich-sanften Fragen aufzuhalten, wenn sie ihr Gesicht erblickten, aber Joan ignorierte sie alle und setzte die Ellbogen ein, um zu Miri zu kommen,
»Wir erinnern uns an den Haß gegen Schlaflose auf der Erde. Wir erinnern uns…«
»Komm mit!« sagte Joan hitzig. Sie packte Miris Hand und zerrte sie weiter hinter die Kuppel, bis die schwarze Halbkugel den Blick auf Jennifer komplett verstellte. Dennoch wurde ihre Stimme bis hierher getragen, so klar, als stünde Jennifer direkt neben Joans zitternder Gestalt. Fäden über Fäden explodierten in Miris Kopf; sie hatte noch nie einen Normalo zucken gesehen!
»Weißt du, was sie getan haben, Miri? Weißt du, was?«
»W-W-Wer? W-W-Was?«
»Sie bringen das Baby um!«
Eine Woge von Finsternis durchfuhr Miri, ihre Knie gaben nach, und sie sank in sich zusammen. »Die B-B-Bettler? W-W-Wie?« Joans Mutter war erst seit ein paar Wochen schwanger, und sie hatte Sanctuary während dieser Zeit nicht verlassen; hieß das, daß es hier Bettler gab…?
»Nicht die Bettler! Die Ratsversammlung! Angeführt von deiner feinen Großmutter!«
Fäden entrollten sich, spannten sich, zerrissen. Miri griff entschlossen nach den Enden. Ihr Nervensystem, das von Natur aus auf höchsten Touren lief, so daß es sich stets hart am Rand der biochemischen Hysterie befand, kam ins Rutschen und drohte über diesen Rand hinauszugleiten. Miri schloß die Augen und atmete tief durch, bis sie die Kontrolle wiedererlangt hatte.
»W-W-Was ist g-g-geschehen, J-J-oan?«
Miris Ruhe, so zerbrechlich sie war, schien auch Joan etwas zu beruhigen. Sie ließ sich neben Miri ins Gras gleiten und legte die Arme eng um die Knie. An ihrer linken Wade war ein halb verheilter Kratzer zu sehen.
»Meine Mutter rief mich in ihr Arbeitszimmer, gerade als ich mich für den Gedächtnistag umziehen wollte. Sie hatte geweint. Und sie lag auf der Matte, die sie und Papa für den Sex benutzen.«
Miri nickte; ihr Hirn wob Fäden um die Frage, weshalb ein Schlafloser flachliegen sollte, wenn er weder verletzt noch beim Sex war.
»Sie hat mir gesagt«, fuhr Joan fort, »daß die Ratsversammlung beschlossen hat, das Baby abzutreiben. Ich fand das merkwürdig – wenn die ersten Tests fehlerhafte DNA zeigen, dann treiben die Eltern von sich aus ab. Was hat die Ratsversammlung damit zu tun?«
»Und… W-W-Was h-h-hat sie…?«
»Ich fragte Mutter, wo der DNA-Defekt liegt. Sie sagte, es würde keinen geben.«
Rundum wogte Jennifers Stimme: »… die Überzeugung, daß ihnen, weil sie schwach sind, automatisch die Früchte der Arbeitsleistung der Starken gebühren…«
»Ich fragte Mutter, warum der Hohe Rat eine Abtreibung angeordnet hat, wenn das Baby normal ist. Sie sagte, es wäre keine Anordnung gewesen, sondern eine dringende Empfehlung, und sie und Papa hätten sich entschlossen, ihr nachzukommen. Sie fing wieder an zu weinen. Sie sagte, die Genanalyse hätte gezeigt, daß das Baby ein… ein…«
Sie konnte es nicht aussprechen. Miri legte den Arm um sie.
»… ein Schläfer ist.«
Instinktiv nahm Miri den Arm wieder weg. Im nächsten Moment bereute sie das bitter, denn Joan sprang auf die Füße und rief: »Du glaubst also auch, daß Mama abtreiben sollte!«
Sollte sie? Miri war sich nicht sicher. Fäden wirbelten in ihrem Kopf herum: genetische Regression, redundante DNA-Codes, purzelnde Kinder auf dem Spielplatz, der
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