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Bettler 01 - Bettler in Spanien

Titel: Bettler 01 - Bettler in Spanien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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Kindergarten, das Labor, Produktivität… Bettler. Ein Baby, samtweich in den Armen von Joans Mutter. Sie erinnerte sich an Tony in den Armen ihrer eigenen Mutter, an Großmutter, die die kleine Miri hochgehalten hatte, damit sie die Sterne sehen konnte…
    Jennifers Stimme klang lauter: »… uns in erster Linie daran erinnern, daß Ethik sich definiert in dem, was zum Dasein beigetragen, und nicht in dem, was ihm schmarotzerhaft entzogen wird…«
    »Ich bin nicht mehr deine Freundin, Miranda Sharifi!« Sie rannte davon, und ihre langen Beine bewegten sich blitzartig unter den grünen Shorts, die sie am Gedächtnistag nicht hätte tragen sollen.
    »W-W-Warte!« schrie Miri. »W-W-Warte! Ich g-g-glaube, daß der H-H-Hohe R-R-Rat u-u-unr-r-recht hat!« Aber Joan wartete nicht.
    Und Miri würde sie nie einholen können.
    Langsam und schwerfällig erhob sie sich vom Boden und ging ins Labor in Forschungskuppel vier. Tonys und ihr Terminal waren beide eingeschaltet und arbeiteten Programme ab. Miri schaltete sie aus und wischte mit einer weitausholenden Bewegung des Armes alle Computerausdrucke vom Arbeitstisch.
    »V-V-Verd-dammt!« Das Wort reichte nicht, es mußte mehr solche Wörter geben, es mußte etwas geben, das… mit diesem Schmerz in direktem Zusammenhang stand! Auch die Fäden reichten nicht. Diese Unvollständigkeit ärgerte sie wieder einmal, wie schon so oft; es war wie eine fehlende Größe in einer Gleichung, von der man wußte, daß sie fehlte, auch wenn man sie nie zuvor gesehen hatte, weil sich nämlich sonst ein Loch im Zentrum der ganzen Konstruktion zeigte. Und nun war ein Loch in Miri, durch das ein Schläfer-Baby purzelte – Joans Schläfer-Bruder, der morgen um die gleiche Zeit nicht mehr existieren würde – genau wie die fehlende Größe bei der Gedankengleichung nicht existierte, nie existiert hatte und für alle Zeiten irgendwo da draußen sein würde. Und nun haßte Joan sie.
    Miri verkroch sich unter Tonys Tisch und schluchzte.
    Zwei Stunden später fand Jennifer sie dort, nachdem die Reden zum Gedächtnistag beendet und der riesige Geldbetrag, das Äquivalent für produktive Arbeit, an eine Regierung überwiesen war, die keinerlei Gegenleistung dafür erbrachte. Miri hörte, wie Großmutter kurz in der Tür stehenblieb und dann entschlossen den Raum durchquerte, als wüßte sie bereits, wo Miri steckte.
    »Miranda. Komm hervor.«
    »N-N-Nein!«
    »Joan hat dir gesagt, daß ihre Mutter mit einem Schläfer-Embryo schwanger ist, der abgetrieben werden muß.«
    »M-M-M-uß g-gar n-nicht! D-D-Das B-Baby k-k-könnte 1-1-leben! Es ist d-d-doch s-s-sonst g-g-ganz n-n-normal! Und s-s-sie w-w-wollen es!«
    »Die Eltern sind diejenigen, die die Entscheidung zu treffen haben, Miri. Niemand kann sie ihnen abnehmen.«
    »W-W-Warum w-w-weinen d-d-dann J-Joan und ihre M-M-Mutter?«
    »Weil das Notwendige manchmal weh tut. Und weil noch keiner von ihnen gelernt hat, das unumgänglich Notwendige zu akzeptieren, ohne es durch Kummer und Bedauern noch schlimmer zu machen. Das ist eine lebenswichtige Lektion, Miri. Bedauern ist nichts Produktives. Ebensowenig wie Schuldgefühle und Trauer, obwohl ich wegen aller fünf Schläfer-Embryos, die wir bisher in Sanctuary hatten, beides verspürt habe.«
    »F-F-Fünf?«
    »Bislang. Fünf in einunddreißig Jahren. Und alle Eltern haben die gleiche Entscheidung getroffen wie Joans Eltern, weil alle die unumgängliche Notwendigkeit eingesehen haben. Ein Schläferkind ist ein Bettler, und die produktiven Starken akzeptieren die parasitären Forderungen von Bettlern nicht. Wohltätigkeit ja – das ist eine individuelle Angelegenheit. Doch eine Forderung, so als hätte das Schwache einen moralischen Anspruch gegenüber dem Starken, als wäre es diesem in irgendeiner Weise überlegen – nein. Das akzeptieren wir nicht.«
    »Ab-b-ber d-d-das Sch-Schläferb-baby w-w-würde d-d-doch p-p-prod-duktiv s-sein! Es ist ja s-s-sonst n-n-normal!«
    In einer eleganten Bewegung ließ Jennifer sich auf Tonys Stuhl nieder. Der Saum ihrer schwarzen Abajeh legte sich sanft neben Miris zusammengekauerter Gestalt auf den Boden. »Für einen Teil seines Lebens ja. Aber Produktivität ist etwas Relatives. Ein Schläfer mag wohl fünfzig produktive Jahre haben, angefangen von, sagen wir, seinem zwanzigsten Lebensjahr. Doch im Unterschied zu uns ist mit sechzig, siebzig sein Körper geschwächt, krankheitsanfällig, erschöpft. Und doch könnte er noch bis zu dreißig Jahre weiterleben –

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