Bettler 01 - Bettler in Spanien
Spielplatz.
Die meisten Leute waren mit der ganzen Familie gekommen. Miri und Tony hingegen drängten sich zusammen mit allen anderen SuperS, die älter waren als acht oder neun, in den Schatten einer Versorgungskuppel. Bei großen Ansammlungen von NormS, mit denen sie körperlich nicht mithalten konnten, fühlten die SuperS sich wohler abseits; am wohlsten fühlten sie sich, wenn sie unter sich waren. Miri glaubte nicht, daß ihre Mutter nach ihr oder Tony oder Ali auch nur ausgeschaut hatte; Hermione war mit einem neuen Baby beschäftigt. Niemand hatte Miri erklärt, wieso dieses, genau wie die kleine Rebecca, ein Normalo war. Und Miri hatte nicht gefragt.
Wo Joan nur blieb? Miri verdrehte den Kopf nach allen Seiten, aber nirgendwo war die Familie Lucas zu sehen.
Jennifer Sharifi, in einer schwarzen Abajeh, bestieg die Plattform. Miris Herz schwoll vor Stolz. Großmama war so wunderschön, noch schöner als Mutter oder Tante Najla. Sie war so schön wie Joan. Und über Großmamas Zügen lag jene beherrschte Gelassenheit, die in Miri stets Fäden und Kreuzverweise zwischen Intellekt und Willenskraft hervorrief. Es gab niemanden, der so war wie Großmutter.
»Bürger von Sanctuary«, begann Jennifer. Verstärker trugen ihre Stimme in jeden Winkel der Station. »Die Regierung der Vereinigten Staaten nennt euch zwar Bürger ihres Landes, aber wir teilen diese Meinung nicht. Wir wissen, daß eine Regierung, die sich nicht auf das Einverständnis der Regierten stützt, keine Rechtsgewalt über diese besitzen kann. Wir wissen, daß es einer Regierung, die unfähig ist, die Tatsache anzuerkennen, daß die Menschen nicht gleich geschaffen wurden, an jener Einsichtigkeit und visionären Kraft fehlt, die ihr erlauben würden, Rechtsgewalt über uns geltend zu machen. Und wir wissen, daß keine Regierung, die Bettlern das Recht auf die Früchte der produktiven Arbeit ihrer Mitmenschen einräumt, über jenes moralisch-ethische Fundament verfügt, das Voraussetzung wäre, Rechtsgewalt über uns auszuüben.
An diesem fünfzehnten April, unserem Gedächtnistag, erklären wir, daß Sanctuary das Recht auf seine eigene, durch das Einverständnis aller zustandegekommene Regierung besitzt, auf seine eigene klarsichtige Realitätsbezogenheit, auf die Früchte seiner eigenen Produktivität. Wir haben das Recht auf all das, aber wir verfügen noch nicht über die Gegebenheiten. Wir sind nicht frei. Wir verfügen noch nicht über ›jene eigenständige und gleichberechtigte Stellung, die uns nach den Gesetzen Gottes und der Natur gebührt‹. Dank der Vision unseres Gründers Anthony Indivino haben wir Sanctuary, aber wir haben keine Freiheit.«
»N-N-Noch nicht«, flüsterte Tony trotzig Miri ins Ohr. Sie drückte seine Hand und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Menschenmenge nach Joan zu durchkämmen.
»Dennoch konnten wir uns, soweit es uns möglich war, ein gewisses Maß an Freiheit schaffen«, fuhr Jennifer fort. »Zwar wurden wir ohne unser Einverständnis der Gerichtsbarkeit des Staates New York zugeteilt, doch haben wir in zweiunddreißig Jahren keine einzige Klage eingereicht oder uns der Gefahr einer solchen ausgesetzt. Wir wenden statt dessen unser eigenes System der Rechtsprechung an, von dem die Bettler da unten nichts wissen. Zwar wurden wir ohne unser Einverständnis den Vorschriften für die Berufsausübung unserer Makler, Ärzte, Anwälte, ja selbst der Lehrer unserer Kinder unterworfen, doch haben wir stets jede einzelne dieser Vorschriften beachtet sogar dann, wenn es für uns bedeutete, eine Zeitlang unter den Bettlern leben zu müssen. Zwar sind wir gezwungen, bedeutungslosen statistischen Verordnungen nachzukommen, die uns Bettlern gleichstellen, doch haben wir uns gezählt und gemessen und getestet wie verlangt, ehe wir das Ergebnis als jenen belanglosen Unsinn fallenließen, den es gewiß darstellt.«
Miri entdeckte Joan. Sie drängte sich blind und rücksichtslos durch die Menge, und Miri mußte erschrocken feststellen, daß sie nicht in Gedächtnistags-Schwarz gekleidet war. Sie trug ein dunkelgrünes Oberteil zu ebensolchen Shorts. Miri hob den Arm so hoch sie konnte aus dem Schatten der Kuppel heraus und winkte krampfhaft.
»Doch eine Forderung der Bettler an uns können wir nicht gelassen akzeptieren«, sagte Jennifer. »Bettler arbeiten nicht für ihren eigenen Lebensunterhalt; sie fletschen die Zähne und erwarten, daß besser Geeignete das für sie erledigen. Um jenen Millionen von
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