Bettler 01 - Bettler in Spanien
das Fehlen eines Terminals bemängelt und dagegen protestiert, denn außer den Isolationszellen besaßen alle Häftlingsunterkünfte zumindest einfache Terminals aus einer unzerbrechlichen Metallegierung, die nur für die Datenausgabe geeignet und an der Wand fix befestigt waren. Seine Klientin hatte ein Recht auf den Zugang zu den Nachrichtensendungen, zur zugelassenen Literatur aus der Bibliotheksdatenbank und zum elektronischen Postservice der Vereinigten Staaten. Der Leiter des Bezirksgefängnisses ignorierte die Proteste; er dachte gar nicht daran, einen Schlaflosen mit einem Terminal alleinzulassen. Ebensowenig erlaubte er dem Häftling die Teilnahme an gemeinschaftlicher Gymnastik und an den gemeinschaftlichen Mahlzeiten, sowie Besuche in der Zelle, einschließlich jener von Sandaleros. Zwanzig Jahre zuvor war unter den Augen desselben – damals noch jüngeren und widerstandsfähigeren – Leiters im Gefängnis von Cattaraugus ein Schlafloser aus Sanctuary durch Mord ums Leben gekommen. Nicht noch einmal. Nicht in seinem Gefängnis.
Jennifer Sharifi wies ihren Anwalt an, die Proteste einzustellen.
Am ersten Tag studierte sie kritisch die vier Ecken ihrer Zelle und ordnete die südöstliche Ecke dem Gebet zu. Wenn sie die Augen schloß, sah sie die aufgehende Sonne statt der Schaumsteinwand, und nach einigen Tagen brauchte sie die Augen dazu gar nicht mehr zu schließen. Die Sonne war da, herbeigerufen mit Hilfe des Willens und des Glaubens.
In der nordöstlichen Ecke befand sich das Waschbecken. Sie wusch sich zweimal täglich von Kopf bis Fuß, legte ihre Abajeh ab und wusch auch diese, denn sie weigerte sich, Gefängniskleidung zu tragen und die Gefängniswäscherei zu benutzen. Und wenn das Überwachungsgerät ihre tägliche Nacktheit ausposaunte, so war das so bedeutungslos wie die Schaumsteinwand, wenn es galt, die Sonne zu sehen. Nur ihre Handlungen waren von Bedeutung, nicht die Beurteilung dieser Handlungen durch Untermenschen, die schon allein durch ihr lüsternes Hinsehen jene Menschlichkeit verwirkt hatten, die allein Jennifer erlaubt hätte, sie zu respektieren.
Die verbleibenden beiden Ecken wurden von der Pritsche eingenommen. Jennifer ließ das zusammengefaltete Bettzeug Tag für Tag unberührt darunter liegen, und machte das Bett selbst zu ihrem Lernplatz. Sie saß auf seiner Kante, kerzengerade aufgerichtet in ihrer nassen Abajeh, und las dort alle Schriftstücke, die sie verlangt und die man ihr genehmigt hatte; sie kamen unregelmäßig und mit Unterbrechungen. Jennifer gestattete sich nur ein einmaliges Lesen jedes Informationsblattes, jedes Gesetzbuches, jedes Ausdrucks eines Werkes aus der Bibliothek. Wenn es nichts zu lesen gab, lernte sie durch Nachdenken, indem sie Szenarios aufbaute, die jedes nur mögliche oder unvorhergesehene Ereignis abdeckten. Sie dachte an alle Eventualitäten ihrer rechtlichen Situation. An die ungewissen Folgeerscheinungen von Walcotts Erkenntnissen für die Zukunft von Sanctuary. Von Leisha Camdens Alternativen. An die Folgen für den wirtschaftlichen Unterbau jeder Abteilung, jeder Organisation, jeder signifikanten persönlichen oder beruflichen Beziehung innerhalb von Sanctuary. Jede Ungewißheit verzweigte sich an bestimmten Stellen; Jennifer prägte sie sich alle ein, bis sie die Augen schließen und das ganze große Gedankengebilde sehen konnte, Entscheidungen bei Gabelungen und Verästelungen und wiederum Gabelungen und Verästelungen, Dutzende davon. Sowie sie neue Daten erhielt – durch Schriftstücke oder von Sandaleros – entwarf sie im Geist jeden davon betroffenen Gedankengang neu. Jedem einzelnen Entscheidungspunkt ordnete sie eine Stelle aus dem Koran zu, oder, wenn eine widersprüchliche Auslegung möglich schien, mehr als eine Stelle. Sobald sie das gewaltige ausgewogene Ganze ausgebreitet hinter ihren geschlossenen Lidern sehen konnte. Öffnete sie die Augen und brachte sich dazu, es in drei Dimensionen vor sich zu sehen, in ihrer Zelle, wo es wie der Baum des Lebens mit seinem greifbar wuchernden Astwerk den gesamten Raum einnahm.
»Sitzt bloß da und stiert vor sich hin«, berichtete die Gefängnisaufseherin dem Bezirksstaatsanwalt. »Manchmal hat sie die Augen offen, manchmal zu. Regt sich kaum.«
»Halten Sie es für einen krankhaften Erstarrungszustand, der medizinisch behandelt werden sollte?«
Die Aufseherin schüttelte den Kopf, nickte dann und schüttelte wieder den Kopf. »Wie, zum Geier, soll ich wissen, was bei denen
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