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Bettler 01 - Bettler in Spanien

Titel: Bettler 01 - Bettler in Spanien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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zwar bei Dingen, die unsere Träume eher verdienen würden als Ruhm und Anerkennung.«
    Aber er schien sie gar nicht gehört zu haben. Er stand vor dem Porträt von Yagai und hob die linke Hand am Hinterkopf vorbei an sein rechtes Ohr.
    Leisha sagte: »Suchen Sie sich einen anderen Anwalt, Doktor Walcott.«
    »Ja«, sagte er zerstreut und rieb sich am Ohr. »Das werde ich tun. Vielen Dank. Auf Wiedersehen. Ich finde den Ausgang allein.«
    Lange saß Leisha auf dem Sofa der Bibliothek und fragte sich, warum Walcott sie so irritierte. Es hatte nichts mit diesem speziellen Fall zu tun; es ging viel tiefer. Lag es darin begründet, daß sie bei Kompetenz instinktiv Vernunft voraussetzte? Das war wohl der amerikanische Mythos: der kompetente Mensch, durchflutet von Individualität und praktischem Sinn, der nie die Kontrolle verlor über sich und die Welt. Doch das war ein Mythos, der durch die Geschichte keine Bestätigung erfuhr: wie oft waren kompetente Menschen unkontrolliert oder irrational! Lincolns Melancholie, Michelangelos furchterregender Jähzorn, Newtons Größenwahn. Leisha hatte sich an Kenzo Yagai orientiert, aber warum sollte es sich bei Yagai nicht um eine untypische Ausnahme gehandelt haben? Warum sollte sie bei Walcott das gleiche logische und disziplinierte Verhalten erwarten? Oder bei Richard, der zwar die moralische Kraft aufbrachte, um das destruktive und unmoralische Verhalten seiner Frau zu unterbinden, der jetzt aber wie Leisha seine Tage in Schutzhaft verbrachte und zusammengesunken in einem Winkel hockte, ohne zu essen, zu reden und ohne sich zu waschen, wenn man ihn nicht dazu zwang? Oder von Jennifer, die ihr brillantes Hirn, ihre taktische Klugheit in den Dienst ihrer Machtbesessenheit gestellt hatte?
    Oder verhielt es sich in Wahrheit so, daß sie, Leisha, rationales Verhalten vermissen ließ, weil sie erwartete, daß diese Leute all das nicht tun würden?
    Sie stand vom Sofa auf und wanderte durch die Wohnung. Die Terminals waren ausgeschaltet; vor zwei Tagen war der Moment gekommen, als sie die hysterischen Nachrichtensendungen nicht mehr ertragen konnte. Die Fensterscheiben verblieben stets matt, so daß sie nur das Licht durchließen und die immer wiederkehrenden dreiseitigen Zusammenstöße zwischen der Polizei und den beiden gegnerischen Demonstrantengruppen unter Leishas Fenster den Blicken entzogen. TOD DEN SCHLAFLOSEN, EHE SIE UNS TÖTEN!, gellten die elektronischen Parolen der einen Seite, und HER MIT DEN PATENTEN, SANCTUARY! IHR SEID KEINE GÖTTER! blitzte es auf der anderen. Gelegentlich waren die beiden Gruppen ihrer ewigen Scharmützel mit der Polizei überdrüssig und legten es sich miteinander an. An den vergangenen beiden Abenden hatte Kevin sich den Heimweg zu dem Gebäude zwischen Reihen von Leibwachen und Polizisten und kreischenden Randalierern erkämpfen müssen, während die Holokameras der Nachrichtenroboter auf der Jagd nach Nahaufnahmen zwei Handbreit von seinem Gesicht entfernt hin und her schwangen.
    Heute war er spät dran. Leisha ertappte sich dabei, wie sie auf die Uhr sah – eine abscheuliche Gewohnheit, aber einfach nicht abzulegen. Zum erstenmal in ihrem Leben fand sie das Alleinsein schwer. Oder war sie noch nie wirklich allein gewesen? Anfangs waren immer Papa und Alice dagewesen, dann Richard und Carol und Jeanine und Tony… und später Stewart und wiederum Richard und schließlich Kevin. Und immerzu, immerzu hatte das Gesetz ihr Gesellschaft geleistet. Sie hatte es studiert, hatte Antworten darin gesucht und hatte es angewendet. Das Gesetz ermöglichte es Menschen mit höchst unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen, Fähigkeiten und Zielsetzungen Seite an Seite zusammenzuleben, ohne in Barbarei zu verfallen. Und Kevin hatte seine eigene Version dieses Credos: er behauptete, daß ein Gesellschaftssystem weder auf der schmalen Basis einer gemeinsamen Kultur ruhte, noch auf der romantischen der ›Familie‹, ja nicht einmal auf den für alle in greifbare Nähe gerückten Segnungen des unbegrenzten technischen Fortschritts, sondern einzig und allein auf dem Doppelfundament aus miteinander im Einklang befindlichen Wirtschafts- und Rechtssystemen. Nur unter dieser Voraussetzung konnte es gesellschaftliche und persönliche Sicherheit geben. Geld und Gesetz. Kevin verstand das, und Richard würde es nie verstehen. Dieses Verständnis war es, was Kevin und Leisha aneinanderband.
    Wo blieb er denn?
    Das Terminal in der Bibliothek klingelte; der Prioritätscode

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