Bettler 01 - Bettler in Spanien
»Nein. Alles Hörensagen.«
»Warum, Richard?« brach es aus Leisha hervor. »Nicht Jennifer, sondern du? Warum hast du es getan?«
»Könnte jemand auf eine solche Frage eine einfache, kurze Antwort geben? Das Leben ist doch eine Aufeinanderfolge von Einzelentscheidungen. Nach Sanctuary zu gehen, Jennifer zu heiraten, die Kinder zu bekommen…« Er stand auf und ging hinüber zu den tropischen Pflanzen; die Art und Weise, wie er sich darüber beugte und ihre haarigen Blätter streichelte, zwang Leisha fast dazu, an seine Seite zu treten.
»Warum erzählst du mir dann das alles?«
»Weil mir keine andere Wahl mehr bleibt, wenn ich Jennifer aufhalten will.« Er hob das Gesicht und sah Leisha an, aber sie wußte, er nahm sie gar nicht wahr. »Zu ihrem eigenen Besten. Außer mir gibt es in Sanctuary niemanden mehr, der ihr Einhalt gebieten könnte – was heißt ›Einhalt gebieten‹! Sie ermutigen sie noch, besonders Cassie Blumenthal und Will Sandaleros. Meine Kinder… Eine Anklage wegen krimineller Handlungen im Zusammenhang mit diesen Patenten wird zumindest einige ihrer Kontakte draußen abschrecken. Es sind schauderhafte Leute, Leisha, ich will nicht, daß sie sich mit ihnen abgibt. Ich weiß, daß nicht viel Konkretes vorhanden ist, worauf du deinen Fall aufbauen könntest – selbst mit meiner Aussage, die ja als unbestätigtes Hörensagen gilt –, und wahrscheinlich wird die ganze Sache vor Gericht abgewiesen, aber glaubst du, ich wäre hergekommen, wenn Gefahr bestünde, daß sie tatsächlich angeklagt wird? Ich habe mich eingehend mit den Fällen Wade gegen Tremont und Jastrow gegen die Vereinigten Staaten beschäftigt, und ich möchte auch, daß dieses Detail in deinen Aufzeichnungen festgehalten wird. Ich will nichts anderes, als Jenny aufhalten. Meine Kinder… der Haß auf Schläfer, der ihnen eingepflanzt wird, die Meinung, daß es ihnen zusteht, im Namen des Selbstschutzes alles – aber auch wirklich alles, Leisha – tun zu dürfen, diese Dinge erschrecken mich zutiefst. Das war es nicht, was Tony vorschwebte!«
Leisha und Richard hatten nach jenem ersten Mal nie mehr darüber reden können, was Tony Indivino vorgeschwebt haben mochte.
Äußerlich etwas ruhiger fuhr Richard fort: »Tony hat sich geirrt. Ich habe mich geirrt. Man wird ein anderer, wenn man jahrzehntelang isoliert und ausschließlich mit Schlaflosen lebt. Meine Kinder…«
»Ein anderer? Inwiefern?«
Aber Richard schüttelte nur den Kopf. »Was geschieht als nächstes, Leisha? Du übergibst das der Staatsanwaltschaft, und sie erhebt Anklage? Wegen Diebstahls und der Verfälschung behördlicher Unterlagen?«
»Nein. Wegen Mordes.«
Sie beobachtete ihn genau. Seine Augen öffneten sich ganz weit und flackerten, und in diesem Moment hätte Leisha ihr Leben darauf gewettet, daß er keine Ahnung hatte von Timothy Herlingers Tod. Doch vor einer Woche hätte sie auch ihr Leben darauf gewettet, daß Richard nichts von einem Diebstahl wußte.
»Wegen Mordes?«
»Timothy Herlinger ist vor einer Stunde ums Leben gekommen. Unter noch ungeklärten Umständen.«
»Und du denkst…«
Sie dachte schneller als er; als sie sah, daß er begriff, machte sie einen Schritt rückwärts.
»Du willst Jennifer wegen Mordes anklagen«, sagte er langsam, »und mich gegen sie aussagen lassen. Wegen der Dinge, die ich hier gesagt habe.«
Irgendwie brachte sie das Wort hervor. »Ja.«
»Niemand im Sanctuary hat einen Mord geplant!« Als sie nicht antwortete, packte er sie am Handgelenk. »Leisha, niemand in Sanctuary… nicht einmal Jennifer… niemand…!«
Sein Stammeln war das allerschlimmste. Richard befand sich im Zweifel, ob seine Frau zu einem politischen Mord fähig war oder nicht. Leisha sah ihn mit einem kalten, harten Blick an. Sie mußte es hören, alles, weil… warum eigentlich? So eben. Weil sie es wissen mußte.
Doch es gab nichts mehr zu hören. Richards Hand schloß sich um die Blüte, die er betrachtet hatte, und er fing an zu lachen. »Hör auf!« bettelte sie, aber er hörte nicht auf. Er fuhr immerzu fort mit seinem kreischenden, keuchenden Lachen, bis Leisha die Tür aufriß und ihrer Sekretärin auftrug, den Staatsanwalt zu verständigen.
11
Die Schaumsteinzelle war sechs Schritt lang und fünf breit. Sie enthielt ein Bett auf einem eingebauten Sockel, zwei Decken, ein Kissen, ein Waschbecken, einen Stuhl und eine Toilette, aber kein Fenster und kein Terminal. Will Sandaleros, der Anwalt des Häftlings, hatte
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