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Bettler 03 - Bettlers Ritt

Titel: Bettler 03 - Bettlers Ritt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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sagte Vicki; sie stand auf und streckte die Krämpfe aus den Beinen. »Ich schau dir in die Augen, Karl Marx.«
    »Wie?«
    »Nichts, Schätzchen. Wir sehen uns dann beim Abendessen, ja?«
    »Okay«, murmelte Lizzie. Sie sah zu, wie Vicki ihren Verschlag verließ und um den gekippten Plastiktisch herumging, der eine seiner Wände bildete. Vicki blickte nicht zurück.
    Lizzie drückte Dirk an sich und wünschte, sie hätte die Bemerkung unterlassen, daß Vicki alles zu wissen glaubte. Vicki hatte ihr soviel Gutes getan, als sie noch ein Kind gewesen war. Aber… Vicki benahm sich tatsächlich so, als würde sie alles wissen! Jede Idee, die aufkam, jeder Plan oder… Warum war Vicki bloß so? Weil sie eine Macherin war?
    Lizzie hob den Arm, ohne das Baby zu stören, tastete hinter ihrem Kopf nach der obersten Schublade ihrer Kommode und holte ihr Terminal heraus. »Bibliothek öffnen.«
    »Bereit«, sagte das System.
    »Dreisatzdefinitionen von zwei Dingen. Erstens: ›Ich schau dir in die Augen.‹ Zweitens: ›Carl Marks.‹«
    »›Ich schau dir in die Augen‹ ist ein berühmt gewordener Ausspruch aus einem Vor-Holo-Spielfilm mit dem Titel Casablanca. Er wurde vom männlichen Hauptdarsteller gegenüber der weiblichen Hauptdarstellerin als Trinkspruch gebraucht. In den 90er Jahren des 21. Jahrhunderts kam die Phrase erneut in Mode, und zwar als ironische Redewendung mit der ungefähren Bedeutung: ›Ich denke, diesen Disput hast du gewonnen‹.
    ›Karl Marx‹ war ein politischer Theoretiker, dessen Schriften von zahlreichen Revolutionären des zwanzigsten Jahrhunderts als Grundlage für ihre Revolutionen benutzt wurden. Er trat für einen Sozialismus ein, der das kollektive Eigentum an den Produktionsmitteln einschloß. Als Mechanismus, mit Hilfe dessen dies erreicht werden sollte, sah er den Klassenkampf voraus.«
    »System aus«, sagte Lizzie.
    »System aus.«
    Ein Kampf der Klassen. War es das, was sie haben wollte? Hatte Vicki in Wahrheit das Gefühl, daß Lizzie das wollte? Und Billy und Annie und… Dirk?
    Ein saurer Geschmack erfüllte Lizzies Mund. Sie schluckte, aber der Geschmack verging nicht. Sie hatte vorgehabt, Vicki zu bitten, mit ihr zu Shockey zu gehen, um ihm den Plan zu erklären, doch vielleicht würde sie das jetzt lassen. Vielleicht sollte sie lieber allein gehen, wenn Vicki diesen Eindruck von ihr hatte. Der Kleine hatte aufgehört zu trinken und war wieder eingeschlafen. Lizzie drückte ihn an sich und beugte sich über den süßen sauberen Babyduft. Doch selbst da wollte der saure Geschmack in Mund und Nase nicht verschwinden.
     
    Sie fand Shockey bei Sharon und ihrem Baby, der neun Monate alten Callie, am Fluß, wo sie angelten. Sie trugen alle drei Wintersachen, doch bei dem warmen Wetter hatten Sharon und Shockey die Jacken aufgeknöpft. Lizzie merkte, daß auch Sharons Bluse aufgeknöpft war. So stand die Sache also.
    Callie saß in einem blauen Plastikwäschekorb am Flußufer und drehte eine dreckige Plastikente in den dicken Händchen. Sie war ein hübsches Kind und hatte Sharons weiches braunes Haar und die großen Augen geerbt, doch als sie Lizzie erblickte, verzog sie das Gesicht zum Weinen und sah sich angstvoll nach ihrer Mutter um. Annie sagte, bei Kindern in Callies Alter wäre das immer so, sie hätten Angst vor Fremden und allem Neuen. Das würde sich schon geben, sagte Annie. Nun, Lizzie verbrachte zwar nicht viel Zeit zusammen mit Sharon und ihrem Baby, aber sie war auch nicht unbedingt eine Fremde; sie gehörten doch alle demselben Stamm an! Lizzie hoffte, bei Dirk würde das anders sein, wenn er in dieses Alter kam. Sie schlug einen Haken, so daß sie aus Callies Blickrichtung kam.
    Sharon und Shockey waren über ihre Angelruten gebeugt; Sharon kicherte und führte Shockeys Hand von seiner Angel an ihre offene Bluse.
    »Hallo!« rief Lizzie laut.
    »Hallo, Liz!« sagte Shockey und streckte sich. »Willst mit uns mal zur Abwechslung ‘n richtigen Fraß haben, wenn wir was fangen?«
    An seinen Worten war nichts auszusetzen. Der Stamm nahm oft Mundnahrung zu sich: Beeren oder Nüsse, gebratenes Kaninchen, wilde Äpfel. Manchmal spürte Lizzie eine Sehnsucht in ihrem Mund, den sie einzig und allein mit wilden Zwiebeln stillen konnte. Die Umstellung bedeutete nur, daß niemand sich mehr mit der Nahrungssuche abmühen mußte; sie hieß nicht, daß man sich nicht mehr auf herkömmliche Weise das Maul stopfen konnte. Es war nichts auszusetzen an Shockeys Angebot – nur an der

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