Bettler 03 - Bettlers Ritt
überhaupt keine.« Ein Schwindelgefühl erfaßte sie und verdrängte die Musik. Mit beiden Händen griff sie nach der Stuhllehne.
»Ich verstehe.« Schwester Anne nickte. »Aus demselben Grund, aus dem Sie nicht umgestellt sind. Aber, Theresa, das ist nicht das gleiche. Neuropharms zur höheren Ehre Gottes… Was glaubten Sie denn, was ich meinte, als ich sagte, wir klammern den Egoismus der persönlichen Wahrnehmung aus? Das ist eine kortikal-thalamische Funktion!«
»Ich weiß nicht, was ich glaubte«, murmelte Theresa. Das Schwindelgefühl verstärkte sich. Sie hielt sich an der Stuhllehne fest.
»Unsere Neuropharms modifizieren die Aktivitäten des Corpus mamillare, der kortikalen Assoziationsfelder und des dorsomedialen Nukleus – nicht viel anders als die Modifizierung der Körperchemie durch Fasten oder ekstatische Gebete in früherer Zeit. Wir durchbrechen einfach die neuralen Barrieren, um das Niveau für Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und die Integration verschiedener Stadien des Bewußtseins zu steigern. Um Gott besser kennenzulernen und zu ehren.«
»Ich muß jetzt gehen«, keuchte Theresa. Das Zimmer drehte sich um sie, und ihre Kehle schnürte sich zu. Sie konnte nicht mehr atmen. Es war keine Luft da…
»Aber, mein Kind…«
»Ich muß… jetzt gehen! Tut… mir leid!«
Sie stolperte durch die offene Tür, und der Vespergesang brandete auf, immer heftiger, während sie blind durch den Korridor taumelte: glorreich, leidenschaftlich, herzzerbrechend. Theresa riß am Tor, aber es ging nicht auf, und diesem Tor konnte sie nicht befehlen, sich zu öffnen. Keuchend schlug sie gegen das Holz, bis jemand, den sie durch die schwankenden Wirbel nicht sah, die Hand an ihr vorbei ausstreckte, das Tor öffnete und sie hinausstürzte.
Hinter ihr schloß sich das Tor wieder und schnitt abrupt den Gesang ab.
Als sie wieder atmen konnte, blieb Theresa lange in ihrem Wagen sitzen, ehe sie ihn abheben und Richtung Süden fliegen ließ.
Der erste Stamm, den sie unter sich sah, hatte sein Winterquartier in den Überresten einer Nutzer-Stadt aus der Zeit vor den Umstellungs -Kriegen aufgeschlagen. Die drei nicht zerstörten Gebäude leuchteten in typischen Nutzer-Farben: fuchsienrosa, grasgrün und hellrot. Hinter dem roten Gebäude lag ein riesiges Stück Plastikfolie über aufgewühlter Erde: ein Nährplatz. Daneben häuften sich die Trümmer alter Maschinen, Roller und Robs und etwas, das aussah wie Wasserrohre. Menschen, klein und unbedrohlich gemacht durch die Flughöhe, blieben stehen und blickten nach oben, wobei sie mit den Händen die Augen vor der kalten Wintersonne beschirmten. Theresa konnte ihre Gesichter nicht sehen.
Sie machte keinen Versuch zu landen oder auch nur die Flughöhe zu verringern. Statt dessen senkte sie das Fenster ab und ließ die Packung mit den Umstellungs- Spritzen hinausfallen. Sechzehn Stück, alles, was Jackson noch im Safe gehabt hatte. Die Spritzen waren in nicht konsumierbaren geblümten Kleiderstoff gewickelt, der möglicherweise beim Aufprall zerreißen würde, aber nichts konnte Miranda Sharifis Umstellungs -Spritzen zerbrechen.
Sogleich nachdem das Paket auf dem Boden aufgetroffen war, rannten die Nutzer hin. Theresa wartete nicht. Sie flog weiter nach Süden, zurück nach Manhattan-Ost, und wußte, sie war eine Heuchlerin: Sie glaubte nicht, daß Umstellungs -Spritzen gut für die Menschheit waren, und dennoch gab sie sie den Nutzern für ihre Kinder. Sie glaubte nicht, daß Neuropharms der Weg zum Lebenssinn waren, aber die Schwestern des Barmherzigen Himmels hatten das Gefühl, daß ihr Leben Sinn hatte, während sie, Theresa, das Gefühl hatte, ihr Leben wäre Scheiße. Sie glaubte daran, daß Schmerz eine Gabe wäre, ein Wegweiser zur Seele, und dennoch ließ sie sich von Robs füttern und von Jackson hätscheln und von Biowaffensystemen schützen, damit sie keine Angst zu haben brauchte vor zu viel Schmerz.
Und immerzu saß Cazie neben ihr im Flugwagen, spöttisch, besorgt, ungeduldig, liebevoll und gefährlich, und sagte: Ironie, Tessie. Verlier deine Ironie nicht!
Ich hatte nie welche zu verlieren, dachte Tess und verdunkelte die Scheiben der Wagenfenster, damit sie nicht das Draußen sehen mußte. Damit sie das Gesicht in den Händen vergraben und sich fragen konnte, was es noch gab, um es als nächstes zu versuchen. Falls es überhaupt noch etwas gab.
»Du hast was getan?« fragte Jackson. Er sprach sehr langsam, so als wären seine Worte glitschig und
Weitere Kostenlose Bücher