Bettler 03 - Bettlers Ritt
vage ausholende Geste mit der Hand. »Da klafft immer so ein tiefer Spalt zwischen dem Buch im Kopf und dem auf dem Bildschirm.«
Es klang wie etwas, das Thomas ihr aus einem Zitatenprogramm herausgesucht hatte. Theresa liebte Zitate. Gaben sie ihr die Illusion eigener Weisheit? Das Herz tat ihm weh vor Mitleid. »Versuch es mit Clear-and-Present-Software. Der Hypertext führt dich zu allen Informationen, die du haben willst. Ich erinnere mich nicht an den genauen Titel, den du brauchst, aber Thomas kann ihn für dich suchen.«
»Danke, Jackson.« Sie lächelte und sah dabei so zerbrechlich aus wie gesponnenes Glas. »Thomas kann ihn suchen. Clear-and-Here-Software?«
»Clear-and-Present.«
Er konnte das knotige, von keinem Gramm Fleisch gepolsterte Fersenbein an ihrem nackten Fuß sehen, als sie hinausging.
Minutenlang saß Jackson vor dem leeren Wandschirm. Der Kampf um Spritzen. Die Attacken auf Enklaven. Verzweifelte Nutzer. Theresa. Abraham Lincoln. Eine Rede Lincolns kam ihm in den Sinn, tauchte auf aus dem mentalen Strandgut seiner eigenen Schulzeit: Die Wahlurne ist stärker als Kanonen.
Niemand glaubte mehr daran. Niemand, den er kannte.
Außer Lizzie Francy.
Er landete sechzig Meter vom Gebäude des Stammes entfernt und dachte daran, wie sich vor beinahe zwei Monaten dreckige Nutzer-Jungen neugierig auf den Flugwagen gestürzt hatten. Und jetzt war einer dieser dreckigen Nutzer-Jungen der Kandidat für ein öffentliches Amt.
Jemand schlenderte auf den Wagen zu. Vicki Turner. Jackson ließ das Fenster hinab, und ein Schwall kalter Winterluft stürzte herein.
»Doktor Jackson Aranow. Was für eine Ehre. Ich hätte angenommen, Sie würden sich irgendwo auf einer Silvesterparty amüsieren. Sind sie gekommen, um unsere Offensive in Richtung einer demokratischen Wählerregistrierung zu unterstützen? Oder sich davon zu überzeugen, daß wir die Sache tatsächlich durchgezogen haben, statt in typischer Nutzer-Manier aufzugeben, nachdem das erste Feuer unseres kurzlebigen Enthusiasmus erloschen ist?«
Jackson runzelte die Stirn. »Ich bin hier, um nachzusehen, wie es mit dem Projekt steht.«
»Welch eine wertfreie Ausdrucksweise! Ihr Psychologieprofessor von der medizinischen Fakultät wäre stolz auf Sie. Um die Wahrheit zu sagen, wir sind gerade auf dem Weg zu einer besonders uneinsichtigen Gruppe, um sie in einem letzten Versuch dazu zu bewegen, sich eintragen zu lassen. Vielleicht könnten Sie uns ein Transportmittel zur Verfügung stellen?«
»Miss Turner – ich habe den Status Ihrer Kreditwürdigkeit überprüft. Er ist miserabel, vermutlich als Konsequenz Ihrer Festnahme durch die AEGS und die darauffolgenden… Widrigkeiten. Aber ich glaube keine Sekunde lang, daß Sie nicht über finanzielle Mittel verfügen, die Sie sich unter anderem Namen rechtzeitig beiseitegeschafft haben. Warum kaufen Sie Ihrem… Stamm nicht einfach einen Luftwagen?«
»Sie irren sich, Jackson. Ich habe keinen Geheimvorrat an Geld. Ich habe alles ausgegeben.«
»Wofür?«
Sie antwortete nicht, lächelte nur vage – und da wußte Jackson es plötzlich: bei den Umstellungs -Kriegen. Welche Rolle auch immer Vicki Turner bei diesem Kampf gespielt hatte, die Amerikaner davon zu überzeugen, daß die Spritzen kein Komplott der Schlaflosen zur Versklavung der Nutzer waren, sie soweit zu bringen, daß sie aufhörten, einander wegen der radikalen Veränderungen in ihrer Biologie umzubringen, sie davon abzuhalten, Washington zu attackieren, bloß weil sie es jetzt konnten – welche Rolle auch immer Vicki Turner dabei zugekommen war, es hatte sie ihre ganzen Ersparnisse gekostet. Und sie bereute es nicht.
»Jetzt haben Sie mich soweit, daß ich mich schäme«, platzte Jackson heraus.
Für einen kurzen Augenblick wurden ihre Gesichtszüge weich, und Jackson sah etwas hinter der spröden Maske – etwas Wehmütiges, ein bißchen Einsames. Dann lächelte sie wie zuvor. »Na also, dann können Sie Ihre tiefe staatsbürgerliche Scham dazu benutzen, uns eine Luftbrücke zu diesen widerspenstigen Wählern zu liefern.«
Jackson antwortete nicht. In diesem Moment unbewußter Verletzlichkeit hatte sie ihn wieder einmal an Cazie gemahnt. Und er selbst hatte sich wieder einmal an einen aufgeblasenen Trottel gemahnt.
Lizzie und Shockey kamen auf den Wagen zu. Lizzie hatte Dirk im Arm, gut eingepackt gegen die Kälte. Shockey trug grellgelbe Latzhosen, darüber eine limettengrüne Jacke und antike Limodosenschmuck in den Ohren.
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