Bettler 03 - Bettlers Ritt
Empfinden, 1993
10
Jennifer saß an ihrem Schreibtisch in Sanctuary und zeichnete mit einer schwarzen Schönschreibfeder. Erstaunlich, wie entspannend sie diese Trivialkunst fand, bei der sie kein Zeichenprogramm, sondern echte Tinte und Papier verwendete. Zweimal am Tag gestattete sie sich zwanzig Minuten, um zu zeichnen, wozu sie gerade Lust hatte, was immer ihr in den Sinn kam. Ein Mittel, um deine Aufmerksamkeit zu konzentrieren? hatte Caroline Renleigh, die Kommunikationschefin von Sanctuary, gefragt, was nur aufzeigte, wie wenig Caroline sie verstand. Jennifers Aufmerksamkeit brauchte kein Mittel zur Konzentration. Das Zeichnen war eine erfrischende Unterbrechung ihrer niemals nachlassenden Aufmerksamkeit.
Jennifers Büro, im willkürlich bestimmten ›südlichen‹ Ende der zylindrischen Orbitalstation, teilte sich den Raum unter der Kuppel mit dem Hohen Rat von Sanctuary. Im ›Norden‹ bildeten Farmen und Wohnkuppeln, Labors und Parks einen hübschen, ordentlichen Anblick, der sich sanft in den Himmel schwang. Im ›Süden‹ grenzte das Büro an die transparente, superharte Plastikmasse, die die Orbitalstation abschloß. Jennifers Schreibtisch blickte hinaus in den Weltraum.
Als sie noch jünger gewesen war, hatte sie ihre Konsole von dieser Schwärze abgewandt. In ihrem Büro und bei den Ratsversammlungen hatte Jennifer stets Sanctuary und das weiche Licht seiner künstlichen Sonne vor Augen gehabt. Doch in den langen Jahren der Haft auf der Erde war ihr klargeworden, daß dies eine unzulässige Schwäche darstellte. Und nun drehte sie ihren Stuhl immer so, daß sie in den Weltraum blickte. Manchmal sah sie in eine Leere, in der die Sterne selbst für die Technik von Sanctuary zu weit weg waren: der unerreichbare Zufluchtsort. Manchmal sah sie die Erde, die bedrückend das Fenster erfüllte und Jennifer daran erinnerte, warum ihre Leute einen Zufluchtsort brauchten. Jennifer betrachtete beide Bilder nachdenklich. Aus Gründen der Selbstdisziplin.
Sie konnte ihre Leute nicht weiter vom Feind wegbringen. Zum Mond, ja – aber dorthin hatte sich Miranda mit ihren Verrätern zurückgezogen. Mit jener GenMod-Generation, die angeblich die genetische Regression zum Mittelmaß hin überwunden und damit sichergestellt hatte, daß die Schlaflosen ihre Überlegenheit über die Schläfer auch weiterhin ausbauen würden. Und die ihre Schöpfer und liebenden Eltern verraten und ins Gefängnis gebracht hatten.
Der Mars wurde von verschiedenen Nationen kolonisiert – am ambitioniertesten vom Neuen Kaiserreich China, mächtig und gefährlich. Schlaflose, die sich dort blicken ließen, bekamen eine Kugel in den Kopf.
Der Titan gehörte den Japanern, die sich nach und nach auch der anderen Monde im Sonnensystem bemächtigten. Obwohl umgänglicher als das Neue Kaiserreich waren sie auf ethnische Außenseiter dennoch nicht gut zu sprechen. Möglicherweise würden sie sich in einer Generation – oder in zwei oder in drei – einem Sanctuary im Orbit um Saturn oder Jupiter entgegenstellen, genauso wie die Vereinigten Staaten sich dem ursprünglichen Sanctuary entgegengestellt hatten. Und dann müßten Jennifers Ururenkel die ganze verdammte Geschichte noch einmal durchmachen.
Nein, sie konnte ihre Leute nirgendwohin bringen als auf diese Orbitalstation, diese zerbrechliche Zufluchtsstätte aus Titan und Stahl, die gebaut worden war, als es noch keine Nanotechnik gab. Und man konnte die Erde auch nicht direkt herausfordern. Das hatte Jennifer bereits versucht, es war fehlgeschlagen, und sie hatte siebenundzwanzig Jahre im Gefängnis verbracht. Und so blieb bei einem Feind, der Jennifers Leute hetzte, schmähte und ermordete, einem Feind, dem man weder entfliehen noch entgegentreten konnte, nur die Arbeit im Untergrund. Dann setzte man Arglist ein und Heimtücke: Setz die Schwächen des Feindes gegen ihn ein – und zwar so, daß er sich nie darüber klar wird, was ihm seine Kampfkraft geraubt hat. Ein solches Vorgehen gestattete zwar keinen offenen Triumph, aber Jennifer hatte gelernt, ohne offenen Triumph auszukommen. Vorausgesetzt, sie bekam statt dessen, was am allerwichtigsten war: Sicherheit für ihre Leute. Dafür trug sie die Verantwortung.
Verantwortungsgefühl, Selbstkontrolle, Pflichtbewußtsein. Die moralischen Tugenden, ohne die es keine Vervollkommnung gab und keine Größe. Diese Tugenden waren auf der Erde längst vergessen. Strukow, der klassische Söldner, beging Verrat an seinen Leuten, so oft er
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