Bettler 03 - Bettlers Ritt
für Geld pathologische Viren schuf. Die Aristokraten des Neuen Kaiserreiches China besiedelten den Mars und ließen ihre eigenen Armen in der GenMod-Viren-Hölle zurück, zu der einander mit allen Mitteln bekriegende Kasten Westchina gemacht hatten. Und die amerikanischen Macher, die Sanctuary wegen der Unsummen an Steuern, die die Orbitalstation ablieferte, rechtlich und finanziell an die Vereinigten Staaten fesselten, hatten ihre eigene Moral längst abgelegt, um in ihren versiegelten Enklaven leeren Vergnügungen nachzujagen.
Da blieb nur der Weltraum.
Die Orbitalstation Sanctuary – die letzte Bastion von Verantwortungsgefühl gegenüber den eigenen Leuten. Von Verantwortungsgefühl, Selbstkontrolle, Pflichtbewußtsein. Einer moralischen Stärke, die fähig war, über die Freuden des Augenblicks hinauszusehen, über die individuellen Bedürfnisse einer einzelnen Person und hin zu den Bedürfnissen der Gemeinschaft. Der Rest der Welt hatte vergessen, daß ›Gemeinschaft‹ nicht nur eine soziale Basis bedeutete, sondern auch eine biologische. Der Mensch gehörte nicht nur jenen Gemeinschaften an, die er sich frei wählte – etwa in beruflicher oder geographischer Hinsicht –, sondern auch jener, in die er hineingeboren wurde. Und seine oberste Verpflichtung mußte Loyalität gegenüber jener Gemeinschaft sein, die von klein auf für ihn sorgte, andernfalls würde die ganze Kette sorgender Generationen abreißen. Und diese Loyalität mußte eine bewußte Entscheidung sein, kein sinnentleertes Dogma. Das war es doch, was es hieß, wahrhaft Mensch zu sein: nicht die Rudelloyalität von Wölfen zu zeigen, sondern die Möglichkeit zu haben, sich für ein anderes Rudel als das eigene zu entscheiden – und genau das nicht zu tun. Die moralische Entscheidung.
Die Schläfer, geblendet von einer Technik, die Diener sein sollte und nicht Herr, hatten diese Art von Moral vergessen. Wie bedauerlich für die Schläfer; sie würden sich selbst zerstören. Und es war Jennifers Aufgabe, sicherzustellen, daß sie nicht in der Lage waren, zuvor auch noch Sanctuary zu zerstören.
Sie vollendete ihre Tintenzeichnung, eine kompliziert verschlungene geometrische Figur, deren Gerade und Winkel so präzise gezogen waren, als hätte sie ein Lineal benutzt. Sie zeichnete immer geometrische Figuren. Doch diesmal waren noch vier Minuten ihrer Zeichenzeit übrig; sie begann eine neue Figur neben der alten.
»Jennifer? Das solltest du sehen.« Paul Aleone, Vizepräsident von Sharifi-Enterprises, stand in der Tür. Wie Caroline Renleigh war auch Paul einer der zwölf Schlaflosen, die hinter dem Plan gestanden hatten, die Vereinigten Staaten zur Freigabe Sanctuarys zu zwingen. Und auch er war von seinen eigenen Enkelkindern verraten worden und hatte zehn Jahre im Bundesgefängnis von Allendale verbracht. Er war verläßlich. Jennifer drehte den Stuhl herum, um ihn ansehen zu können und lächelte.
»Sieh mal«, sagte Paul und reichte ihr einen Stapel Ausdrucke. Mit dem makellosen Äußeren ausgestattet, das seine GenMods ihm verliehen hatten, bewegte er sich immer noch mit der Leichtigkeit und Eleganz eines jungen Mannes. Doch er war ja auch erst siebzig. »Carolines Suchprogramm hat dies hier aus den aktuellen Meldungen der Erdkanäle herausgeholt. Das Suchwort lautete ›Billy Washington‹. Das ist der Nutzer, der…«
»Ich erinnere mich«, sagte Jennifer. Sanctuary verfolgte natürlich dauernd die Datenbanken der Aufsichtsbehörde für die Einhaltung genetischer Standards, ebenso wie jene der meisten anderen staatlichen Behörden. Billy Washington, seine Frau Annie Francy und ihre Tochter hatten die ersten Versuchskaninchen für Mirandas biologische Experimente abgegeben. Zusammen mit einem Macher-Agenten der AEGS in so perfekter Tarnung, daß nicht einmal Sanctuary in der Lage gewesen war festzustellen, wer er oder sie war.
Paul sagte: »Das Programm hat auch eine Suchroutine für ›Lizzie Francy‹, der Stieftochter von Washington. Sie ist jetzt siebzehn. Sie und ihr sogenannter Stamm versuchen, einen eigenen Kandidaten in ein staatliches Amt wählen zu lassen.«
»Einen Nutzer-Kandidaten?« Jennifer überflog die Ausdrucke. Obwohl sie die übliche Schläfer-Sensationsmache widerspiegelten, gelang es Jennifer, die Fakten unter all dem Bombast zu erkennen. Nutzer im Distrikt Willoughby in Pennsylvania hatten sich ins Wählerverzeichnis eintragen lassen – etwas, das die Nutzer früher eifrig und gewissenhaft taten, jetzt
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