Bettler und Hase. Roman
dem K. Den Preisunterschied der Geschäfte erkannte man am Preisunterschied der Kleider, die von den Eintretenden getragen wurden: Pelz zu K, Windjacke und Gummistiefel zu S. Eine Ausnahme bildeten die Bauern, die zu dem gingen, für den sie mehr produzierten. Die Tankstellen wiederum hatten Türme, so hoch wie Minarette, aber an den Zapfsäulen kreuzte ein überraschend alter Fahrzeugbestand auf, der sich im Wesentlichen aus zähen Japanern zusammensetzte. Nun aber rollte Vatanescus Volvo an einer Reihe deutscher Qualitätsfahrzeuge vorbei, die unter den Bedingungen des Nordens getestet wurden. Als ihm der Navigator auf Schwedisch mitteilte, die gefahrene Strecke betrage nun siebenundachtzig Kilometer, kam ihm ein Polizeiauto entgegen. Es hielt nicht an, aber Vatanescu hatte das Gefühl, dass es zumindest das Tempo gedrosselt und die Köpfe darin sich nach ihm umgedreht hatten.
Ich stehle nicht.
Ich sammle Beeren.
Vatanescus Beispiel ermutigte die Dagebliebenen, auf ihre Rechte zu pochen beziehungsweise sich überhaupt erst welche auszudenken, und so kam es, dass die Bettler unter Balthazars Führung gegen die schlechten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen rebellierten. Jegor Kugar wusste zwar, wie man in einem Krisengebiet mit einer offenen Rebellion umging oder aufkeimende Demokratie erstickte, aber im demokratischen Nordeuropa konnte man nicht nach Belieben Waffen und maskierte Männer einsetzen, ja nicht einmal Wasserboarding war erlaubt.
Also schlugen die Machtverhältnisse einen Salto. Für die Untergebenen ist das immer eine freudige Überraschung, für denjenigen, der bislang bestimmt, befohlen, unterdrückt hat, jedoch ein Schock. Wie Jegor die böse Überraschung erlebte, wird in seinen eigenen Worten anschaulich:
»A) Wie können Menschen nur so hässlich sein? B) Wie können Menschen nur so gemein sein? C) Wie können Menschen nur so dumm sein? D) Und wie kann es sein, verdammt noch mal, dass einer wie ich noch dümmer ist?
Betteln. Der totale Flop. Ich hätte mehr verdient, wenn ich mich selbst an die Ecke gestellt und ›Smoke on the Water‹ auf der Balalaika gespielt hätte.
Das Zigeunerlager hat aufgemuckt, mich ausgetrickst, Einkünfte verheimlicht, Kilometergeld verlangt. Ein Teil ist heimgefahren, und garantiert hatte jeder von denen noch Schulden. Für die restliche Bande wurde Vatanescu so was wie der Tscheh Gewahra. Auf einmal spielten die Kerle, die sich vorher nicht getraut hatten, einem Jegor Kugar in die Augen zu sehen, Oktoberrevolution.«
Ein Machtwechsel fand statt, oder eher eine Machtauflösung. Vatanescus Überraschungsangriff hatte Jegor Kugar zu Boden gebracht, und der Ringrichter hatte bis zehn gezählt. Technisches K.o., Nase platt. Vier Jahre wäre er krankgeschrieben worden, wenn es ein Anrecht auf so etwas gegeben hätte.
Vatanescu hatte Jegor Kugar die falschen Geldscheine abgenommen, aber entscheidend war, dass er ihm die Macht geraubt hatte. Und wenn sich die Macht auflöst, dann lösen sich auch echte Scheine in Luft auf. Jegor Kugar wollte Vatanescu natürlich sofort hinterher, erhielt dafür jedoch nicht die Unterstützung der Organisation. Was Jegor für Betrug an seiner Person hielt, wurde innerhalb der Organisation nämlich als Jegors Betrug an der Organisation wahrgenommen. Er war gescheitert, der beabsichtigte Strukturwandel war in die falsche Richtung gegangen.
»Vatanescu hat sich in Luft aufgelöst wie ein Furz im herbstlichen Bahnhofsuntergeschoss. Auf eigene Faust werde ich einen der größten Verlierer dieser Welt schwer finden.«
Die Rentiere glotzten Vatanescu mampfend an, ließen sich von ihm aber ebenso wenig aus der Fassung bringen wie von allen anderen Jedermännern. Es gab ja mehr als genug davon, Akademiker auf Skiern, Holländer auf Motorschlittensafari, Männer in Fernpatrouillen und Schlagerstars aus den Skizentren.
Vatanescu stapfte durch den Sumpf. Als er bis zu den Knien versank, kletterte er den trockeneren Hang zum Fjäll hinauf. Erst oben blieb er stehen, vor sich einen Steinhaufen, dem jeder Wanderer vor ihm einen Brocken oder ein Bröckchen hinzugefügt hatte. Auch Vatanescu legte einen kleinen Stein darauf.
Dann setzte er sich auf einen flachen Felsen und holte das Kaninchen unter der Achsel hervor, um mit ihm gemeinsam die Welt, die sich unverstellt zig Kilometer weit vor ihnen auftat, zu betrachteten.
Hast du je eine solche Stille erlebt? Bist du je an einem Ort ohne Menschen gewesen? Ohne Angst vor ihren
Weitere Kostenlose Bücher