Bettler und Hase. Roman
Reaktionen?
Dreihundertsechzig Grad nichts als Fjälls, Seen, Sümpfe. Allerdings störten hier und da Skizentren mit ihren Hotels, Liften, Kränen und Mobilfunkmasten das Landschaftsbild.
Ich habe keine Angst.
Das ist seltsam.
Aber ich habe wirklich keine Angst.
Dem Lemming da drüben ist es ganz egal, woher ich komme, wie ich mein Geld verdiene, solange ich nicht zwischen ihn und seine Jungen trete. Oder darauf. Runde Berge, alte Rentierzäune, es ist wie daheim beim Häuschen von Tudos Komar, das immer bleibt, wie es ist, auch wenn sich sonst alles ändert.
Etwas im Menschen ist überall gleich, wer immer wir auch sind. Wohin uns das Leben führt, darüber entscheiden das Schicksal, der Zufall, das Sperma unserer Väter und die Eizellen unserer Mütter. Ohne Vernunft, ohne Verantwortung, ohne dass man etwas dagegen unternehmen kann. Der eine hat seinen Platz in Finnland, der andere in Rumänien, der Dritte in Hollywood.
Auf fremdem, unbekanntem Boden bin ich frei.
Mittellosigkeit ist kein Gefängnis. Auch Hunger und Armut nicht. Es sind die Menschen. Diejenigen, die etwas haben, im Gegensatz zu denen, die nichts haben. Denn Besitzer schützen natürlich ihren Besitz.
Ich beschütze dich auch, mein Häschen, doch besitze ich dich nicht.
Wir sind Brüder.
Vatanescu und das Kaninchen gingen weiter an der Kette der Fjälls entlang, Hänge hinunter, Hänge hinauf, wieder hinunter und wieder hinauf. Nachdem sie stundenlang gewandert waren, brauchten sie gar nicht mehr hinzuschauen, um auf die richtigen Steine zu treten. Die Müdigkeit half ihnen dabei, denn es fehlte ihnen längst die Kraft, Fehltritte zu korrigieren, weshalb es besser war, erst gar keine zu machen. Vatanescu konnte inzwischen mehrere Meter vorausschauen, anstatt ständig auf die Zehen zu starren.
Am Abend des zweiten Tages ließ er das Kaninchen frei.
Irgendwann werde ich auch meinen Sohn in die Welt hinausziehen lassen.
Damit er Misserfolg hat.
Damit er Erfolg hat.
Das Kaninchen besaß den scheuen, unbeholfenen und hochmütigen Schritt des Großstadtbewohners und vermochte darum nicht auf Anhieb in den Rausch des Wildkaninchens zu verfallen, das es bei der Geburt ja eigentlich gewesen war. Es musste zunächst die unausgewogene Muskulatur der Hinterläufe an sein Gewicht gewöhnen und seine Koordinationsfähigkeit ausprobieren, worauf es umherhüpfte wie ein Stadtbewohner mit Schaufensterkrankheit. Ein ums andere Mal half Vatanescu dem Tier auf die Pfoten.
Ein Schritt.
Noch ein Schritt.
Komm hinter mir her, mach es wie ich! Vorsichtig, aber mit blindem Vertrauen.
Es gibt nur diesen Augenblick. An gestern können wir uns nicht mehr erinnern, von morgen wissen wir noch nichts.
In einer Talschlucht zwischen zwei Fjälls kamen sie an einen Sumpf, dessen Ränder vor roten und blauen Beeren überquollen. Vatanescu füllte die Tüte, die mit dem Buchstaben S bedruckt war, mit den blauen und die Tüte mit dem K mit den roten. Bevor die Dunkelheit hereinbrach, die in dieser Gegend spät kam – oder war es früh? –, sammelte Vatanescu Brennholz und schlug an einer ebenen Stelle, die von drei Felsbrocken eingefasst wurde, das Lager auf. Mit den unnützen Seiten des Naturführers und den Streichhölzern, auf deren Schachtel »Ming’s Palace« stand, ließ sich das Feuer leicht entzünden. Anschließend bastelte sich Vatanescu aus seiner warmen Steppjacke eine Matratze und aus seinem Sakko eine Decke.
Das Feuer prasselte, die Steine, auf denen Vatanescu lag, wurden warm, und die letzten Lebensmittel von Ming ebenfalls. Für das Kaninchen pickte Vatanescu Reis und Gemüse ohne Soße heraus, dazu ließ er das Tier mit dem Strohhalm Milch trinken. Nachdem das Kaninchen den kleinen Tetrapack geleert hatte, konnte sich Vatanescu daraus eine Tasse machen. In der Innentasche seiner Anzugjacke fand er einen Beutel mit Instantkaffee und Zucker aus dem Zug, frisches Wasser bekam er aus dem Bach.
Bevor er einschlief, suchte Vatanescu im Führer noch einmal die gelbe Beere heraus, von der Ming gesprochen hatte. Er zeigte dem Kaninchen ein Bild davon und befahl ihm, sich durch ein Stupsen bemerkbar zu machen, wenn es welche sah.
Dann schliefen Bettler und Hase ein, unter dem Sternenhimmel auf einem Bett aus Moos, zufrieden mit sich selbst, mit ihren Taten und mit der Welt um sie herum.
Harri Pykström nahm im Keller seines Hauses die VHS -Kassettensammlung in Augenschein. Sechs Regalfächer mit Olympiade, Naturfilmen, Dokumentationen über den
Weitere Kostenlose Bücher