Bettler und Hase. Roman
tatsächlich, ohne mit der Wimper zu zucken, was für ein feiner Kerl der sizilianische Menschenfreund war. Und am Rand der Seite stand in einem Kasten, dass Vatanescu bloß Stollenschuhe für seinen Sohn haben wollte.
Verdammte, verfluchte Scheiße.
Alles Lüge!
Der wollte unsereinem das Leben kaputt machen!«
Und was tat Jegor Kugar da? Zerriss er sein Trikot, trank er hundert Dosen Bier, nahm er intravenöse Drogen? Fuhr er mit dem Taxi in den Norden, um Vatanescu zu suchen? Tat er das, was ein Jegor Kugar in Problemsituationen zu tun pflegte? Erkenne das Problem. Beseitige das Problem. Nein, so kam es nicht, denn Jegor Kugar hatte sein Selbstvertrauen verloren. Die Transmitterstoffe in seinem Gehirn streikten, er hätte einen Therapeuten gebraucht und ein Psychopharmakum der dritten Generation.
»Ich gebe die Schuld der Gesellschaft und dem System. Es ist zu gut. Es ist zu sicher. In diesem Land ist alles so sicher, dass ein Krimineller wie The Jegor es sich leisten konnte, depressiv zu werden.«
Naseem Hasapatilati schlug Jegor vor, eine Liste mit seinen Problemen aufzustellen, damit er sie konkreter vor sich habe. Vielleicht könne er sie dann der Reihe nach beseitigen. Jegor nahm sich ein kariertes Blatt Papier und einen Bleistiftstummel. Alles, was er aufschrieb, hatte mit Vatanescu zu tun.
»Er hat mich als Mitarbeiter betrogen. Er hat mich als Mensch betrogen. Er hat mich verarscht. Er hat die Organisation betrogen, und ich muss es ausbaden. Er hat mir den Teppich unter den Füßen weggezogen, die Zukunft, die Weiber, den BMW , die Steaks, die Freunde und Genossen. Er hat unsereinem das Leben geklaut. Dank Vatanescu bin ich ein depressiver Ausländer ohne Zukunft am Rand der Gesellschaft.«
Die Liste machte alles nur schlimmer, immer tiefer drang Vatanescu in Jegor Kugars Hirnwindungen, Schweißdrüsen und ins Angstzentrum ein. Bei Vatanescu ging es nicht bloß um ausstehende Schulden, die man mit einem kleinen Finger oder notfalls mit einer größeren Gliedmaße, einer Wohnung, einem Auto oder der Überschreibung der Ehefrau abgelten konnte. Das war nicht die Art Business, aus der Jegor Kugars Leben zu 99 , 99 Prozent bestand.
In welchem Verhältnis seine Situation und sein Schmerzpunkt tatsächlich zu Vatanescu lagen, begriff Jegor Kugar in dem Moment, als im Internet ein Fenster aufging und die wacklige Aufnahme einer Handykamera den Wartebereich der Nachtambulanz im Marienkrankenhaus zeigte. Die Kamera zoomte direkt auf Vatanescu und das Kaninchen, das auf seinem Schoß saß. Der Clip war von einem israelischen Server aus gepostet worden.
»War dieser Kanake vielleicht so bekannt wie Jesus, oder was? Was hatte das zu bedeuten? Es bedeutete, dass aus diesem Geschenk des Straßengrabens an die Welt genau das geworden war, was aus mir hätte werden sollen.
Und was hätte aus mir werden sollen? Ein wichtiger Kerl. Ein Star. Ein Promi. Ein Idol.«
Sanna Pommakka saß im Speisewagen und weinte. Oder aber es war nur das Schmelzwasser von jemandem, der von draußen ins Warme kam. Das Eis wurde zu Wasser, das Wasser rann auf den Tisch, jemand legte eine Serviette darauf. Dieser Jemand war ein dunkelhaariger Mann, der einen Overall und einen gelben Helm trug, und dieser Mann reichte Sanna Pommakka die Serviette. Sanna nahm sie entgegen. Dann sah sie dem Mann in die Augen.
Ich habe keine Fahrkarte.
Sie werden mich aus dem Zug werfen.
Wo ich auch lande, der Ort wird mir nicht bekannter und nicht fremder vorkommen als jeder andere Ort in diesem Land.
Sanna Pommakka schielte in alle Richtungen, schniefte und sagte etwas auf Finnisch. Vatanescu schüttelte den Kopf, weil er nichts verstand.
»In dieb schitt«, sagte Sanna.
Ich auch.
»Nou manni. Nou ticket.«
Tell me about it.
»Das wird einfach nichts mit mir. Ich hab einfach nie Glück, nicht in diesem Leben.«
Vatanescu sah die Frau an.
Einsam, zerbrechlich, ein Mensch.
Ein Mensch im selben Zug.
Vatanescu reagierte auf Sanna Pommakkas Worte mit fortgesetztem Kopfnicken wie ein Psychotherapeut, was zur Folge hatte, dass sie ihm mit kurzen, geflüsterten Sätzen erzählte, wie sie in diesen Zug geraten war. Zwei Wochen zuvor hatte sie ein großartiges Angebot erhalten: Für das Richtfest eines Einkaufszentrums wurde eine Bühnenkünstlerin gesucht. Blond. Dreitausend Euro. Die Summe war so enorm, dass sich Sanna Pommakka mit ihrer Visakarte eine Packung Haarfärbemittel kaufte und den Heimtrainer aus der Garage ihrer Eltern holte. Was man
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