Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bettler und Hase. Roman

Bettler und Hase. Roman

Titel: Bettler und Hase. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tuomas Kyrö
Vom Netzwerk:
rumgeschubst wurde und dem man die Klamotten zu klauen versuchte. Ich stieg in die letzte Straßenbahn – oder war es die erste? –, damit ich meine Ruhe hatte. Man kam da drin sogar ins Internet, aber es gab ständig Unterbrechungen, und das Übersetzungsprogramm machte Zicken. Vorm Kaufhaus Stockmann las ich dann plötzlich: ›Die Person, die in Finnland derzeit die meiste Aufmerksamkeit auf sich zieht, hat inzwischen fast mythische Ausmaße angenommen …‹
    Da klingelte es bei mir.
    Mythisch? Hallo!
    Wladislaw Trejak ist ein Mythos, und John Rambo ist ein Mythos, und Stalin und Vince Neil sind beinahe Mythen, aber einer wie Vatanescu hat mit dem Mythos so viel zu tun wie ein Stück Handseife.
    Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich krallte mich dort in der Straßenbahn ins Sitzpolster und heulte wie ein Weib. Dann stellte ich mir ein paar Fragen und verlangte total ehrliche Antworten, weil ich einem Lügner sofort in die Fresse hauen würde.
    Ist unsereiner vielleicht kein gerechter Kerl?
    Will unsereiner keine Gerechtigkeit?
    Will ich als vollgewichstes Knäuel enden?
    Hab ich kein Recht auf mein Recht?
    Will ich Respekt?
    Hab ich die Mittel, mir mein Recht zu nehmen? Hab ich die Kraft? Den Willen?
    Will ich wieder Weiber haben?
    Hab ich den Mut, mir zu holen, was mir zusteht? Oder will ein Jegor Kugar lieber Opfer sein?
    Bin ich ein Opfer?«

Der Schaffner nahm sich alle Zeit der Welt, um mit den Reisenden zu plaudern, für die Bedienung im Speisewagen hatte er auch ein paar persönliche Themen auf Lager. Die beiden hatten den gleichen Humor, den gleichen Arbeitgeber und eventuell die gleichen verhassten Vorgesetzten. Da die Bedienung dem Schaffner eine Tasse Kaffee einschenkte, konnten Vatanescu und Sanna Pommakka noch eine Weile ungestört weiterreisen. Der Zug ratterte durch den Wald, die Stromleitungen hingen tief, dicker Schnee drückte die Bäume in demütige Haltungen. Eine letzte Gruppe holländischer Touristen knatterte auf Motorschlitten vorbei.
    Wir verstecken uns, Pommakka.
    »Wir sagen die Wahrheit.«
    Worüber?
    Zu wem?
    Gibt es eine Wahrheit?
    »Erstens sagen wir, dass wir kein Geld und keine Fahrkarten haben.«
    Vielleicht dürfen wir auf Pump weiterfahren. Oder wir spülen ab. Massieren Schultern. Schlagen Purzelbäume. Schmelzen das Eis entlang der Strecke.
    Nun war es Sanna Pommakka, die ihre Hand auf Vatanescus Hand legte, ohne zu wissen, warum. Ich aber weiß es, denn ich bin der allwissende Erzähler, ich krieche den Figuren unter die Haut, und wenn es nötig ist, steige ich zum Himmel auf, um sie von oben zu betrachten. Es war so, dass Sanna Pommakka deshalb die Initiative und Vatanescus Hand ergriff, weil Vatanescu keine Bedrohung für sie darstellte. Er verlangte nichts von ihr und wollte ihr nichts wegnehmen – so etwas merkt man gleich. Es kann sich dabei um fehlenden Ehrgeiz oder Willenlosigkeit handeln, aber auch um etwas sehr seltenes: um Redlichkeit und Lauterkeit.
    »Zweitens erzählst du mir, wer du bist«, sagte Sanna Pommakka. »Erzähl mir die Wahrheit über dich!«
    Das würde ich tun, wenn ich sie wüsste.

    Der Schaffner kratzte mit dem Löffel den Zuckerschleim vom Boden seines Kaffeebehälters, knüllte den Pappbecher dann zusammen und warf ihn in den Abfalleimer. Mit seinem elektronischen Lesegerät kontrollierte er die Fahrkarten zweier Gewerkschafter auf dem Weg in den Süden und wünschte mit leichtem Anheben der Mütze eine gute Weiterreise. Die beiden Männer hatten rote Wangen und jeweils eine Flasche dunkles Bier sowie einen Schnaps vor sich stehen. Ihr Leben hatte eine Richtung, weil der Zug eine hatte. Immer geradeaus und in Riihimäki umsteigen.
    Nun trennten den Schaffner nur noch wenige Reisende von Vatanescu und Sanna Pommakka. Sanna hielt Vatanescus Hand umklammert, Vatanescu machte Anstalten, zu fliehen.
    »Lass mich nicht im Stich!«, sagte Sanna.
    Dich? Wen? Wer?
    In dem Moment regte sich das Kaninchen unter Vatanescus Achsel.
    Bleib in deinem Versteck.
    Hör auf zu zappeln.
    Vatanescu hinderte das Kaninchen daran, aus dem Kragen zu kriechen. Dann verhinderte er die Bemühungen des Tieres, durch den Ärmel auf den Tisch zu schlüpfen. Sanna drückte Vatanescus Hand nun so fest, dass es wehtat. Nachdem das Kaninchen die Wegsperren zur Kenntnis genommen hatte, begab es sich in ein Hosenbein des Overalls und schaffte es über den Rand von Vatanescus Sicherheitsstiefel hinweg ins Freie.
    Das Kaninchen sprang in Sanna Pommakkas Zauberhut.
    Es sprang

Weitere Kostenlose Bücher