Bettler und Hase. Roman
allen Ecken und Enden hervorquoll, war die Einsamkeit. Sanna Pommakka hatte das Gefühl, ganz allein auf diese Welt gekommen zu sein und sie ganz allein wieder verlassen zu müssen. Wie sollte da irgendetwas eine Bedeutung haben?
Sie lag auf ihrer Drittelcouch und schaute zu, wie im Fernsehen die Dreizimmerwohnung von Familie Nielikäinen renoviert wurde. Im Kinderzimmer versuchte man durch helle Farben eine größere Raumwirkung zu erzielen und durch Einbeziehung der Kammer zusätzlichen Platz zu schaffen; für die Küche war ein harmonisches Zusammenspiel von rostfreiem Stahl und Fliesen in Marmor-Imitat geplant.
Sanna aß kalte Würstchen und hatte Sehnsucht. Sehnsucht heißt, dass man dorthin will, wo man hingehört, auch wenn man nicht genau weiß, wo das ist. Bei anderen Menschen. Bei
einem
anderen Menschen. Wo aber sollte Sanna den herzaubern?
Allein das Essen bereitete ihr ein gewisses Wohlgefühl. Es hatte immerhin einmal gelebt und drang nun in sie ein. In einer Nacht konnte Sanna mühelos ein Kilo Pommes und zwei Packungen Würstchen vertilgen. Die Regale des deutschen Discounters waren ihre Freunde, sie boten ihr Zuflucht, hielten die eine oder andere Überraschung bereit und hatten Verständnis für sie. Für einen Zwanziger bekam man dort eine herrlich repräsentativ gefüllte Tüte mit Kohlenhydraten, Proteinen, Natriumglutamat, Zucker und Salz. Eine Packung Würstchen mit rotem Punkt: sechzig Cent.
Sanna schaltete um.
In einem für Männer bestimmten Sender ließ man einen Zauberer tief in eisiges Wasser fallen, von Ketten umschlungen, in eine Kiste gesperrt. Sanna griff sich einen frittierten Kartoffelstift und sah dem Zauberer zu.
Er glaubte an sich. Er wusste, was er tat, aber niemand außer ihm wusste, wie er es tat. Er brachte die Menschen dazu, an sich zu glauben. Seine Illusion kam an.
Sanna Pommakka informierte sich bei Google über das Leben des Mannes. Mit einem Topmodel verheiratet, zwei Kinder, Mandus und Skylah. Und dann kam es zu einem Erweckungserlebnis. Von allen Menschen auf der ganzen Welt war es ausgerechnet der Illusionskünstler Germano Bully, der Sanna Pommakka die Tatkraft zurückgab.
Mit U-Bahn, Bus und S-Bahn fuhr sie zur Zentralbibliothek, und kaum war sie eingetreten, geschah ein Wunder; vielleicht war es Vorsehung, auf jeden Fall war es wie der entscheidende Wendepunkt in einem Film. Sannas Blick fiel auf die Reihe mit den aussortierten Büchern, und unter ihnen, an vierter Stelle, stand das Zauberbuch von Solmu Mäkelä, »Der Knoten«, für einen Euro.
So niedrig kann der Preis für die Zukunft eines Menschen liegen.
Sanna übte zu Hause, bis sie Solmus Tricks mit geschlossenen Augen, im Dunkeln und bei starkem Schlafmangel beherrschte. Dann meldete sie sich beim Zauberkurs der Volkshochschule an und lernte dort, Kritik als etwas anzunehmen, das ihrer Zauberei galt, nicht ihrer Person. Im Fortgeschrittenenkurs wurden weiterentwickelte Illusionen und die Beherrschung des Publikums geübt.
Sannas Lehrer behauptete, er habe sein Diplom in Las Vegas gemacht. Er lobte sie für ihre schnellen Hände und ihre Entwicklungsfähigkeit, tadelte sie allerdings für ihr ernstes Gesicht, ihren sensiblen peripheren Blutkreislauf und ihr Übergewicht. Ein Zauberer war ein Entertainer, und bei einer Frau hieß das: blondierte Haare und Wespentaille. Man muss was hinkriegen und was hermachen, erklärte der Lehrer.
Sanna Pommakka gründete eine Firma und beantragte staatliche Starthilfe. Sie entwarf eine Homepage für sich, füllte den Antrag auf Unternehmerrente aus und ließ sich bei einer kleinen Veranstaltungsagentur auf die Liste setzen. Sie nahm alle Aufträge an, anfangs nur gegen Aufwandsentschädigung. Ihre Tricks testete sie bei ihrem Vater und ihrer Mutter, wobei sie die beiden bat, so ehrlich zu sein, wie man es gegenüber der eigenen und einzigen Tochter nur sein konnte.
»Funktioniert nicht«, sagte der Vater.
»Funktioniert«, sagte die Mutter.
»Das sagst du bloß, weil du meine Mutter bist«, sagte Sanna.
»Ich habe gesehen, dass die Karte im Ärmel steckt«, sagte der Vater.
»Früher, weißt du, da haben die Zauberer ein Kaninchen aus dem Hut gezogen«, sagte die Mutter.
In der Wochenendbeilage der
Absolut Gazeta
fand sich unter der Rubrik »Menschen« ein Interview mit einem Menschen namens Harri Pykström. Die Fotos waren von einem über den Fjälls schwebenden Hubschrauber aus gemacht worden.
»Da erzählte dieser fette finnische Exsoldat doch
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