Bettler und Hase. Roman
lachte immer noch, nicht weil er gemein war, sondern ein aufrichtig dummer Sechzehnjähriger, dessen emotionaler Werkzeugkasten genau drei Utensilien enthielt: Lachen, Faust und Stichelei. In den gemeinsamen Stunden mit Sanna war jeder Zauber fern.
Weil die Oberstufenberaterin Sannas Traum vom Gymnasium unrealistisch fand, wechselte Sanna Pommakka nach der Neunten direkt in ein Möbellager.
Ein Jahr verging.
Vier Jahre vergingen.
Ihre Kollegen setzten ihr Leben mit Studium oder Zusatzausbildung fort, aber Sanna blieb und begnügte sich mit dem alle zwei Wochen ausbezahlten Lohn. Mit Pertti aus der letzten Reihe war sie noch immer zusammen – wenn auch in wechselnder Intensität –, denn Pertti war in der Nähe und hatte ein tiefergelegtes Auto. Sanna wusste selbst nicht, was es damit auf sich hatte, aber Pertti bedeutete es so viel, ein tiefergelegtes Auto zu besitzen, dass auch Sanna es zu schätzen wusste.
Als Pertti sie dann betrog, hielt Sanna das für ihre eigene Schuld. Sie war nicht gut genug. Ihr Aussehen, ihre Intelligenz, ihr Charakter genügten nicht. Sie redete nicht über ihre Wünsche und Träume, weil sie befürchtete, deswegen ausgelacht oder sitzengelassen zu werden. So starben ihre Wünsche und Träume allmählich ab, und die Beziehung zu Pertti ging zu Ende. Inzwischen hatte Sanna ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen.
Nach wie vor belieferte sie Kunden mit Couchgarnituren, Couchtischen und Stockbetten. Je größer die Couch, desto mehr Leben im Haus. Sie lieferte Gitterbetten für Babys, Schreibtische für Erstklässler, selten mal einen Schaukelstuhl für einen alten Menschen, in dessen Wohnung Bilder von Kindern, Enkeln und Urenkeln die Wände zierten.
Eines Tages trug Sanna Pommakka mit ihrem Kollegen eine Eckcouch zu einem Reihenhaus. Ein Kind öffnete Tür, es sah aus wie Pertti und lachte wie Pertti, weil es Perttis Sohn war. Pertti lachte mittlerweile nicht mehr, er hatte ein Kind und eine Frau im Arm, und er war ein guter Mann geworden. Sanna Pommakka ließ sich die Lieferung quittieren, sah Pertti in die Augen und gefror. Das Schlimmste war, dass Pertti sie anscheinend nicht einmal erkannte. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie zum Möbelwagen zurück.
Die Tränen kamen mit sechs Stunden Verspätung, weshalb Sanna Pommakka nicht einmal verstand, warum sie weinte. Sie saß allein auf ihrer Couch, während im Fernseher ein rothaariger Talkshow-Moderator das Live-Publikum mit seinem Anfangsmonolog zum Lachen brachte.
Dann machte das Möbelgeschäft pleite, und weil Sanna Pommakka es immer wieder aufgeschoben hatte, in die Gewerkschaft einzutreten, fiel sie nun direkt bis zur Arbeitslosenhilfe durch. Als Kündigungsprämie bekam sie lediglich eine Couchgarnitur, die für ihre Einzimmerwohnung viel zu groß war. Sie sägte sie in der Mitte durch und schenkte die andere Hälfte ihrem Nachbarn. Bald musste sie auch noch die verbliebene Hälfte durchsägen, denn die Arbeitslosenhilfe reichte nicht für die Miete, und sie war gezwungen, sich eine noch kleinere und noch günstigere Wohnung zu suchen.
So geriet Sanna Pommakka an den Rand, nicht stufenweise oder auf einen Schlag, sondern ganz und gar unmerklich. Eigentlich geschah es im Schlaf, weil es da am leichtesten ging. Im Schlaf passierte überhaupt mehr als im wirklichen Leben. Sanna träumte von Kindern, die am Sonntagmorgen im Ehebett ihrer Eltern hüpften, sie sah die Kinder im Wohnzimmer spielen, wo es einen Kiefernholzboden gab und Bücherregale, wo Spielzeug herumlag, in der Ecke ein großer Fernseher stand und auf der Couch ein Mann saß, den Sanna lieben durfte und der sie ebenbürtig zurückliebte.
Sanna schlief. Nach dem Aufwachen holte sie sich an der 24 -Stunden-Tankstelle Pommes und eine Packung Würstchen und aß um drei Uhr früh zu Abend. Dann schlief sie weiter. Als sie aufwachte, war es schon lange Tag. Sie schaute sich ein paar Seifenopern an, Gartensendungen, Sommerhaussendungen und Filme und sah, was andere Menschen für ganzheitliche Existenzen hatten. Sah es auch in den Nachrichten, sogar in solchen, in denen eine Frau ihren Mann umbrachte, denn die Frau hatte immerhin einen Mann gehabt und mit ihm Kinder, um die man sich nun kümmern musste. Sämtliche Probleme sämtlicher Menschen waren Beziehungsprobleme. Alle hatten Beziehungen in alle Richtungen, alle wurden von der Welt bewegt, umgetrieben, hin und her gerissen. Bloß Sannas Probleme waren immer nur die eigenen. Und das eigentliche Problem, das an
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