Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
bekamen dann großzügig Geld für ein Eis, und danach musste Viktor alles protokollieren und das Gelernte wiedergeben.
Als Marco am Abend ging, musste Viktor zu Emilia, der Sekretärin seines Vaters. Emilia war in ihrer Funktion als Chefsekretärin immer sehr beschäftigt. Wenn sie nicht pausenlos telefonierte und Termine akribisch in den Kalender schrieb, dann tippte sie ununterbrochen auf ihrer Tastatur oder lief Viktors Vater mit Zettel hinterher. Aber von 18 bis 19 Uhr war immer „Abschluss des Tagesgeschäfts“ und sie fand ab und zu Zeit, mit Viktor zu reden, der einfach auf einem Stuhl in ihrem Büro saß und ihr zusah und zuhörte. Sie interessierte sich nicht sonderlich dafür, dass er ein kleiner Junge war, und so erzählte sie ihm in endlosen Ausführungen von irgendwelchen Kunden und Geschäftsvorgängen. Viktor verstand nie, was sie sagte, aber er hörte höflich und aufmerksam zu und nickte, wenn er dachte, dass eine Reaktion von ihm erwartet wurde. Er fand Emilia sehr hübsch und sie roch sehr gut, sie hatte immer Blumen und Schokolade in ihrem Büro, ihre langen, dunkelbraunen Haare glänzten immer und ihre Brille gab ihr einen sehr geheimnisvollen Ausdruck, was Viktor aufregend fand. Zusätzlich zu allen unverständlichen Bresolino-Views-Geschäftsdetails erzählte Emilia ab und zu Sachen, die Viktor verstehen konnte. So erfuhr er unter anderem schon in sehr jungen Jahren, welche Handtaschenmarken die angesagtesten waren; dass ein Gemisch aus Eigelb, Olivenöl und Brennnesseltee sehr gesunde Haare machte, und dass Nudelsalat von einem anständigen Schuss Gurkenwasser hervorragend wird. Heute lernte er, dass es furchtbar fatal sein kann, wenn man Kassenbons nicht aufhebt, und dass manche Läden und insbesondere manche Verkäuferinnen sehr zickig sein können, wenn man ihnen keinen Kassenbon vorweisen kann, wenn man etwas zurückgeben möchte. Viktor merkte sich, dass das Aufbewahren von Kassenbons lebenswichtig sein kann.
Um 19 Uhr hatte Emilia immer Feierabend. Sie zog ihre Jacke an, hängte sich ihre Handtasche an die Schulter, umarmte Viktor, küsste ihn auf die Wange und rief „Tschüss, mein Süßer!“, während sie zu den Aufzügen lief.
Sein Vater hatte ab 19 Uhr immer Video-Konferenzen oder Besprechungen und war gegen 19:45 Uhr zurück. So lange wartete Viktor nebenan in seinem Büro. Sein Vater hatte für ihn in einer Ecke einen kleinen Schreibtisch eingerichtet, mit Buntstiften, Papier, Büchern und einen kleinen Mikroskop. Mit dem Mikroskop hatte Viktor den Spaß seines Lebens. Alles fing damit an, dass er seinen Finger unter das Mikroskop hielt. Als er seinen eigenen Fingernagel sah und die tiefen Rillen und Furchen und der Dreck ihm einen furchtbaren Schreck einjagten, hielt er sich tagelang vom Mikroskop fern und weigerte sich, wieder reinzuschauen. Danach war er nur noch fasziniert davon. So inspizierte er alles, was er finden konnte: Kaugummis, Staub, Erde aus den Blumentöpfen, Radiergummis, Emilias Ohrringe, Popel, Papierfetzen oder Haare.
Um 19:30 kam immer die Putzfrau, die im Büro Staub wischte, staubsaugte und die Mülleimer leerte. Die Putzfrau kam aus einem fremdländischen Land und redete nur Fremdländisch. Viktor fand sie anfangs sehr gruselig und mochte sie nicht, weil er gar nichts verstand und sie ihm sehr suspekt erschien. Aber sie war nett und redete sehr viel, wofür Viktor dankbar war, denn nachdem alle aus dem Gebäude nach Hause gegangen waren, wurde es sehr ruhig und gruselig in der Firma. Manchmal sang die Putzfrau ein fremdländisches Lied oder gestikulierte wild mit den Armen und erzählte ihm verärgert über einen älteren Mann, dessen Photo sie immer in ihrem Portemonnaie hatte. Viktor nickte immer heftig bei allem, was sie sagte, blickte sie mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen an und bekam immer Kopfschmerzen vom vielen Nicken und der ganzen Konzentration darauf, wenigstens ein einziges Wort von dem ganzen Redeschwall zu verstehen.
Viktor liebte Bresolino Views, und Gerald, Marco, Emilia und die Putzfrau waren jahrelang seine besten Freunde.
Heute hatte er überall erzählt, dass er Harfe spielen wollte, und betonte immer zu jedem: „Bitte lass Papa Ja sagen, bitte! Sag ihm das!“ Gerald sah ihn komisch an und fragte: „Bist du ein Mädchen in weißem Kleid mit Flügeln oder was?“
Marco wurde nervös und meinte, er wäre nicht der Richtige, um dem Chef so etwas zu sagen.
Emilia lachte und sagte: „Ach wie süß, mein
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