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Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Titel: Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Kassem
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Schätzchen! Harfen sind aber teuer und sehr schwer zu lernen!“
    Und die Putzfrau hörte ihm angestrengt zu, zuckte mit den Schultern, schüttelte resigniert den Kopf und gab ihm ein Bonbon.
     
    Im Auto, als sein Vater ihn nach Hause fuhr, sprach Viktor noch einmal das heikle Thema an.
    Sein Vater schaltete in den vierten Gang, überholte einen anderen Wagen und fragte: „Viktor, wie kommst du überhaupt auf so etwas?“
    „Einfach so. Ich will es lernen.“
    „Aber Harfe! Warum Harfe?“
    „Ich will Harfe spielen.“
    „Willst du nicht lieber Gitarre lernen?“
    Viktor schüttelte mit dem Kopf, aber da es im Auto dunkel war und sein Vater sich auf die Straße konzentrierte, sagte er noch zusätzlich: „Nein.“
    „Du kannst auch in einen Fußballverein. Fußball spielen macht Spaß! Du sammelst doch die Stickers. Du kannst der nächste Batigol werden!“
    Viktor dachte kurz darüber nach, dann schüttelte er den Kopf und sagte: „Ich muss unbedingt Harfe spielen!“
    Sein Vater sah unglücklich aus. „Sag mir einen überzeugenden Grund, warum du das willst?“
    Viktor überlegte kurz und antwortete dann: „Ich glaube, das wird meinem Gehirn guttun.“
    „Was ist mit deinem Gehirn?!“, rief sein Vater erschrocken.
    „Ich glaube, nichts. Aber ich weiß, dass ich Harfe spielen muss.“
    Sein Vater sah noch unglücklicher aus. Am nächsten Tag musste Viktor zu einem Neurologen, der ihn drei Stunden lang untersuchte, nichts feststellte und auf zwölf Seiten attestierte, dass Viktor vollkommen gesund und sein Gehirn zur Gänze in Ordnung war.
    Sein Vater kaufte ihm eine kleine Harfe, mit dem Kommentar, dass sie fast so viel kostete wie ein guter Gebrauchtwagen, und der Anweisung, bloß keinen einzigen Kratzer darauf zu machen und dem Befehl, seine Harfestunden mit einer Musikstudentin ernst zu nehmen.
    Viktor besuchte ein paar Mal seine Harfelehrerin, nahm seine Stunden ernst und übte sorgfältig, entschied aber sehr schnell, dass Harfespielen schwierig und langweilig war, und gab es dann schließlich auf.
     
     
     
     
     
     
     
     

Gynoeceum

     
     
    Viktor hatte sich eben wieder übergeben.
    Helena Abies brachte ihn ins Bett und ermahnte ihn: „Kratz nicht mehr so!“
    Zusätzlich zur Magen-Darm-Grippe hatte er noch Läuse. Seine ganze Klasse war von der Schule suspendiert worden und die Eltern hatten den Auftrag bekommen, ihre Kinder vollständig vom Läusebefall zu befreien.
    „Viktor, ich muss wieder kurz runter.“ Seine Mutter stellte ihm einen Eimer neben das Bett. „Ich komme in einer Stunde noch einmal hoch. Wenn du dich noch mal übergeben musst, dann bitte nicht wieder ins oder hinters Bett, sondern hier rein. Hast du verstanden?“ Viktor nickte. „Und Finger weg von deinen Haaren! Ich schicke gleich Oded in die Apotheke und wir kaufen dir was dagegen.“ Sie küsste ihn auf die Stirn, zog die Vorhänge zu, sagte ihm, dass er ein wenig schlafen solle, und ging hinaus. Er hörte sie die Haustür aufmachen, wieder zumachen und dann ihre Schritte auf den Treppen.
    Viktor und seine Mutter wohnten in einer kleinen Wohnung oberhalb des Schneiderateliers und Viktor war unendlich froh über diese Wohnsituation. Von seinen Freunden und Klassenkameraden bekam er mit, dass es nicht selbstverständlich war, dass die Eltern im selben Gebäude arbeiteten, in dem sie wohnten. Viktor konnte sich ein Leben gar nicht vorstellen ohne die Schneiderwerkstatt unten, ohne seine Mutter ständig in der Nähe zu haben, ohne die ganzen Mitarbeiter , die ebenfalls oberhalb des Schneiderateliers in kleinen 1-Zimmer-Appartements wohnten und die Viktor mittlerweile zur Familie zählte. Seine Mutter machte oft Geschäftsreisen, kreierte Kleider für Theaterauftritte und Galas und musste ständig bei Anproben dabei sein, aber sie war nie länger als ein paar Tage weg. Helena Abies war eine der bekanntesten Persönlichkeiten in Hedera Helix. Sie wurde in vielen Dankesreden erwähnt, das Atelier war schon oft in der Zeitung, und einmal kam sogar das Fernsehen, aber da war Viktor noch zu klein gewesen und erinnerte sich nicht mehr daran. Helena durfte sogar einmal eine Modenschau in einem Palazzo in Venedig organisieren. Viktor durfte damals mit – Venedig fand er gruselig. Vielleicht kam es daher, dass er an den vier Tagen, an denen sie da waren, drei Mal in die Kanäle fiel. Seine Mutter war damals sehr wütend, hatte geschworen, ihn nie wieder irgendwohin mitzunehmen und redete kein einziges Wort mit ihm auf dem

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