Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
langen Rückflug. Vielleicht lag es auch daran, dass Viktor sein Essenstablett aus Versehen umgeworfen hatte und Helena die Lasagne und der andere Sitznachbar die Cola in den Schoß bekamen.
Er hatte auch seinen Vater auf einigen Geschäftsreisen begleitet. Helsinki fand er langweilig, Abu Dhabi zu warm, Shanghai noch angsteinflößender als Venedig (er ging da verloren und verbrachte drei Stunden auf einem Polizeirevier mit Menschen, die nur Fremdländisch redeten und fremdländisch aussahen, und er konnte nicht aufhören zu weinen, was ihm mit seinen sechs Jahren schon selber peinlich war), an Caracas konnte er sich gar nicht erinnern, und Kanada fand er zu kalt und lag damals zwei Wochen mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus. Sein Vater fragte ihn nie wieder, ob er mit auf Geschäftsreise wollte.
Jetzt lag er da, versuchte, nicht an seine Kopfh aut zu denken, und inspizierte die Bettwäsche. Da waren grüne Monster auf dunkelblauem Hintergrund, die je einen roten Traktor fuhren und ganz schiefe Augen und heraushängende Zungen hatten. Ihm war schrecklich langweilig, aber er war zu müde, um aufzustehen und irgendwas zu machen. Also starrte er an die Decke und hörte den von unten summenden Nähmaschinen zu. Das Geschäft bestand aus Helenas pfirsichfarbenem Empfangsraum, der Couch und den pfirsichfarbenen Sesseln, Tischen mit vielen Katalogen darauf und einem Empfangstresen. Die Kunden kamen herein, bekamen Tee oder Kaffee oder an warmen Tagen frische Limonade, suchten sich in den Katalogen ein Kleid, einen Anzug oder irgendein Kleidungsstück aus, Helena nahm dann die Maße und führte die Kunden in die zwei Lagerräume im Keller, wo sie sich den Stoff aussuchen konnten für ihr Kleidungsstück. Wenn die Kunden weggingen, brachte Helena den Stoff und die Maße nach hinten in die Werkstatt. Dort arbeiteten drei Frauen aus den Philippinen und zwei Männer aus Bahrain. Sie schnitten Stoff, nähten Perlen an, stickten oder arbeiteten an den immerwährend ratternden Nähmaschinen. Helena saß nachts immer in der Werkstatt und nähte selbst, und gab jedem fertigen Kleidungsstück den letzten Schliff.
Viktor hatte unter dem Bett mehrere Kisten mit Kostümen, die Helena im Laufe der Jahre für ihn genäht hatte. Er hatte alles von Superman über Batman, Winnetou, Sherlock Holmes, Robin Hood, mehrere Piratenkos tüme, einen Tyrannosaurus, Pikachu, einige Militäruniformen und He-Man. Diese Kostüme waren sein größter Stolz und er zog sie zu jedem Anlass an, der sich ergab.
G erade jetzt fühlte er sich jedoch wie ein flohiger Hund auf einer Müllhalde. Er zwang sich aufzustehen, zog die Vorhänge auf und öffnete das Fenster. Es war ein schwüler Nachmittag. Er sah Kennedy unten im Hof in der Nachmittagssonne liegen. „Kennedy“, rief er leise, die Katze schaute hoch, miaute und schlief wieder ein.
Als Viktor noch jünger war, war er fest davon überzeugt, dass Kennedys Vater ein Admiral war und eine riesige Flotte hatte, und dass Kennedy, als die Flotte mal in Hedera Helix anlegte (Hedera Helix besaß keinen Meereszugang, noch nicht mal einen Fluss), einfach vom Schiff absprang und sich entschloss, hier zu bleiben, weil es nicht so gruselig war wie andere Städte, und suchte sich gleich den Vierten Distrikt als Lieblingsviertel aus. Das war nur allzu logisch. Viktor, wäre er nicht schon da hineingeboren, hätte sich auch den Vierten Distrikt als Zuhause ausgesucht. Sein Vater wohnte im Neunten, da waren nur große Blocks mit Portiers und Valets, die einem das Auto wegparkten und Aufzüge, die direkt in Wohnungen fuhren, und jede Wohnung hatte eine Terrasse, die größer war als Helenas gesamte Wohnung. Viktor mochte diese Blocks nicht. Alles war so sauber, und falls er mal bei seinem Vater übernachtete, guckten die Zimmermädchen am nächsten Morgen missbilligend auf sein ganzes Spielzeug, das in der Wohnung verstreut lag. Einmal hatte er nachts Schokolade im Bett gegessen und war mit der Schokoladentafel eingeschlafen. Am nächsten Morgen lag die Schokolade geschmolzen unter ihm, und alles hatte sich durch Viktors Bewegungen im Schlaf schön verteilt. Die zwei Zimmermädchen waren davon so angewidert, als ob er ein Stinkerchen ins Bett gemacht hätte, und warfen Viktor, der verängstigt in der Zimmerecke saß, ganz finstere Blicke zu.
Der Vierte Distrikt bestand nur aus kleinen Häuschen, einem Gemüsehändler, einer Bar und einem Markt, der dreimal die Woche stattfand. Kein Gebäude kam über zwei
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