Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Stockwerke, und vom zweiten Stockwerk konnte man schon den Horizont sehen. Im Neunten Distrikt, wenn man nicht gerade im siebenundzwanzigsten Stock wohnte, war Horizontgucken unmöglich.
Hedera Helix war mit ihren Distrikten spiralförmig angeordnet. In der Mitte war der Erste Distrikt: das Zentrum mit dem Rathaus, ein paar Firmen – unter anderem Bresolino Views –, die Einkaufsmeile und eine Altstadt, die gar nicht alt aussah. Dann drehten sich die Distrikte im Uhrzeigersinn nach außen und hörten mit dem Zehnten Distrikt auf. Der Vierte Distrikt grenzte ans Umland, von Helenas Haus musste man nur zehn Minuten Richtung Osten gehen, da war man schon aus Hedera Helix heraus.
Mit den anderen Distrikten hatte Viktor noch gar nichts zu tun gehabt. Mit Marco ging er zwar bei ihren vielen Ausflügen durch einige Distrikte, aber alles sah gleich aus und er konnte sie nicht auseinanderhalten. Er kannte nur D1, D4 und D9 (da war seine Schule). Er kannte D10 noch ein klein wenig, es grenzte an D4, und einmal im Jahr gastierte dort ein Zirkus. Eigentlich bestand D10 nur aus einem riesig großen Feld, das – wenn der Zirkus nicht da war – einfach leer und brach dalag.
Insgesamt war Hedera Helix nicht groß. Man konnte in weniger als einer Stunde vo n einem Ende zum anderen spazierengehen. Deswegen gab es auch keine Straßenbahnen (Viktor fuhr mit einer Straßenbahn in Helsinki und fand sie gruselig, als sie plötzlich einen unterirdischen Tunnel passierte), sondern nur eine Buslinie, die HEx (Hedera Helix Express) hieß, und insgesamt nur 10 Haltestellen. Die kannte Viktor aber auswendig:
1. Innenstadt
2. Zollamt
3. Supermarkt
4. Markt
5. Kirschallee
6. Friedhof
7. Gewerbegebiet
8. Kino
9. P-Blocks
10. Brachliegendes Feld
Viktor konnte schon mit vier Jahren die Haltestellen aufsagen, er liebte Busfahrten über alles, obwohl er nie alleine Bus fahren durfte. Die einzige Person, mit der er Bus fuhr, war Marco. Sein Vater hasste Busse, Oded fuhr den Atelier-Wagen, und ansonsten war Viktor mit wenigen anderen Erwachsenen unterwegs. Seine Mutter weigerte sich hartnäckig, ein Auto zu fahren, und besaß noch nicht einmal einen Führerschein, und Oded musste sie überallhin chauffieren.
Viele Menschen warfen Helena vor, geizig zu sein. Sie sagten immer, dass sie sich doch ein vernünftiges Haus kaufen und einen richtigen Laden im Zentrum eröffnen sollte … anstatt in einer winzigen Wohnung oberhalb ihres lärmenden, kleinen Geschäfts zu hausen. Viktor fand sie aber alles andere als geizig. Sie gab ihm fast kein Taschengeld, aber sie kaufte ihm immer, was er wollte, und er konnte sich an kaum irgendetwas erinnern, das er nicht bekommen hätte. Außer als er unbedingt den Elefanten haben wollte, der mit dem Zirkus unterwegs war, oder das Tyrannosaurus-Rex-Skelett aus dem Naturkundlichen Museum.
Ferner wäre er mehr als bestürzt gewesen, wenn Helena tatsächlich umziehen wollte. Viktor war schon mit sehr jungen Jahren ein sehr ausgeprägter Lokalpatriot. Und das färbte sich auch auf sein zukünftiges Leben ab.
Nie sollte er jemals woanders wohnen als oberhalb des Schneiderateliers in D4.
D4 war nicht unbedingt das sauberste Viertel. Die örtliche Müllhalde war nicht weit entfernt, nah genug, damit sich an warmen Sommertagen die Fliegen und der Gestank bemerkbar machten. Der Markt brachte auch ein paar Gerüche und Abfälle mit sich, ganz zu schweigen von den Ratten. Und wenn es regnete, dann stand das Wasser immer kniehoch in den Straßen, weil die Abwasserkanäle verstopft waren.
Die einzigen Lichtblicke in D4 waren ein Spaziergang auf den Feldern am Rande von Hedera Helix, ein Besuch in Helenas pfirsichfarbenem Atelier, oder ein Besuch im „Reconquista“, einer Bar in Viktors Straße.
Im Reconquista wurde niemals Musik gespielt, die Speisekarte umfasste ein Tagesgericht und acht Getränke, die Innenausstattung war ganz aus dunklem, teilweise gammeligem Holz, es roch immer säuerlich nach Nikotin, Bier, Urin und Kartoffelsuppe, und der Inhaber war ein mürrischer, schweigsamer Mensch namens Rocco. Das Besondere am Reconquista war jedoch der Apfelkuchen, der zu einer lokalen Berühmtheit geworden war. Zweimal im Jahr hatte Roccos Mutter, die in der Küche des Reconquista arbeitete, immensen Hochbetrieb. Im Sommer, wenn der Zirkus da war, und im Herbst bei der Heuernte, dem Stadtfest. Das
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