Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Treppen vor seiner Bar, zupfte an seiner Gitarre, und eine Zigarette hing ihm aus dem Mundwinkel. Er blickte erstaunt auf, als er einen wütenden Viktor vor sich sah, der „Ich habe Hunger!“ rief.
Aber Rocco stellte keine Fragen und führte Viktor in die Küche, wo seine Mutter am Backen war.
Sie gab ihm einen Teller Kartoffeleintopf und zwei Scheiben Brot. So saß Viktor an einem Tisch in der Bar und aß schweigsam. Er verlangte sogar noch eine zweite Portion. Als er fertig war, bedankte er sich und schüttelte Roccos Mutter die Hand.
Er setzte sich dann zu Rocco auf die Treppenstufe , und sie beobachteten die Straße. Es war nichts los. Der Gemüsemann von der anderen Straßenseite schien auch irgendwelche Probleme zu haben und fuchtelte mit einem Arm, während er mit dem anderen einen Telefonhörer ans Ohr hielt. Der Nachmittag war sehr warm, Viktor schwitzte in seinem Schulpullover. Ehe er sich versah, schlief er ein.
Rocco war überrascht , als er sich zu Viktor umdrehte und ihn mit zurückgelehntem Kopf, geschlossenen Augen und einem offenem Mund sah, aus dem ein dünner Speichelfaden lief.
Als Viktor am späten Nachmittag aufwachte, lag er in einem fremden Zimmer, und bekam einen hektischen Schweißausbruch.
Als er aber die wohlbekannte Gitarre in der Ecke sah, beruhigte er sich. Er blieb noch eine Weile liegen, denn er fühlte sich seltsam und war sich sicher, dass er krank sei.
Er konnte Rocco unten hören, der irgendeinem Gast mürrisch verkündete, dass der Laden keine Margaritas hätte und Nudeln auch nicht auf der Speisekarte stünden. Viktor stand auf, machte Roccos Bett und ordnete die Kissen. Sein Rucksack stand neben dem Bett. Viktor warf einen Blick hinein, um zu überprüfen, ob noch alles da war, aber anscheinend hatte Rocco seine Schulsachen nicht gestohlen, alles war noch an seinem Platz.
Roccos Wohnung war groß, lag über dem Reconquista und hatte dieselben Maße und denselben Schnitt wie die untere Etage. Das Schlafzimmer war riesig, so groß wie Helenas gesamte Wohnung. Viktor wusste, dass ein anderes Stockwerk darüber lag, und dass Roccos Mutter dort wohnte.
Er hatte das Bedürfnis, sich alles noch genauer anzuschauen, traute sich aber nicht, da seine Mutter ihm mal einen langen, furchterregenden Monolog über das Herumschnüffeln hielt, also nahm er seinen Rucksack und ging nach unten. Die Treppe führte direkt in den Laden, er sah ein paar Leute, die am Tresen saßen , und es duftete nach Apfelkuchen.
Rocco gab ihm ein Stück Kuchen und ein anderes Stück in einer Serviette eingepackt für Helena, und schickte ihn nach Hause.
Sonnenuntergang war ein kurzer Prozess in Hedera Helix – keine langgezogene Dämmerung. Sobald die Sonne den Horizont berührte, war sie dann auch in weniger als zehn Minuten untergegangen und das Restlicht verschwand fast augenblicklich. Viktor hatte die Sonne in anderen Teilen der Welt auch schon beobachtet. In Helsinki wollte die Sonne gar nicht untergehen. Da war es 22 Uhr in der Nacht, es war Schlafenszeit und immer noch hell. Und in Kanada wurde es schon um 15 Uhr dunkel. Viktor fand diese zwei Länder sehr gruselig, er vermutete irgendwelche kuriosen Machenschaften am Himmel. Er konnte sich nicht vorstellen, wie jemand dort überhaupt wohnen wollte. In Hedera Helix war es morgens, wenn er aufwachte, hell. Die Sonne ging immer zuverlässig um sechs Uhr auf und kurz nach 18 Uhr ging sie unter. Hell bedeutet wach sein, dunkel bedeutet langsam müde werden und dann schlafen gehen. In Kanada war es dunkel, als er aufwachte, und dunkel, wenn er schlafen ging. In Helsinki bekam er die Dunkelheit gar nicht mit. Er wollte mit diesen beiden Ländern nie wieder irgendwas zu tun haben.
Jetzt, auf dem kurzen Weg nach Hause, war Viktor aber auch nicht einverstanden mit der Situation. Es war schon fast dunkel, aber er hatte den ganzen Nachmittag verschlafen und das brachte alles durcheinander. Aufwachen heißt den ganzen Tag noch vor sich zu haben und nicht wieder schlafen gehen zu müssen.
Der Scheißtag soll sich selbst ficken, dachte Viktor.
Zu Hause fand er seinen Vater am Küchentisch, der mit Helena über ein Stapel Papiere brütete und irgendwas in einen Taschenrechner eingab.
Normalerweise hätte sich Viktor wie wahnsinnig gefreut, seinen Vater bei ihm zu Hause zu sehen, aber heute grunzte er nur seine erstaunten Eltern im Vorbeigehen an und ließ seine Zimmertür zuknallen.
Er machte keine Hausaufgaben und legte sich mit einem
Weitere Kostenlose Bücher