Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
da er befürchtete, dass die anderen Vögel hereinfliegen würden, aber als Cristobal ihn dringlich anschaute und wieder anklopfte, hatte Viktor keine Wahl mehr. Er öffnete das Fenster einen kleinen Spalt. Cristobal flog herein und Viktor knallte das Fenster schnell zu.
„Keine Angs t, sie werden dir nichts tun“, sagte Cristobal und setzte sich auf das Bett.
„Wer sind sie?“, fragte Viktor.
„Wer?“
„Die Vögel da.“
Cristobal putzte seinen linken Flügel und sagte dann: „Die Elstern gehören zum Wachbataillon.“
„Was ist das?“
„Das Wachbataillon. Die Wache. Der Objektschutz.“
„Warum?“
„Sie sind klug und sehen und hören viel, und haben einen guten Warnruf und Alarmruf.“
„Und was machen sie?“
„Sie bewachen dich. Abramskaya hat einen Sonderbefehl erlassen, der dich zur höchsten Priorität deklariert. Der Befehl lautet, dass du nun bewacht werden musst.“
„Warum?“
Cristobal flog zum Fenster, flog hinter den Vorhang und schaute nach draußen. Er zeigte auf die Bäume vor dem Fenster und sagte: „Die schwarzen Vögel da, das ist die Corvusbrigade – Dohlen und Raben und Krähen. Die Corvusbrigade gehört zur Kampftruppe. Die großen Vögel da am Himmel, das sind die Falconiformes, sie gehören zur Luftwaffe und bewachen das Gebiet.“
Viktor stellte sich auch ans Fenster und schaute nach draußen.
„Die Eulen“, Cristobal zeigte auf die leuchtenden Augen in den Ästen und Blättern, „die Kampfunterstützungstruppe der Pioniere. Ein paar der Eulen gehören zum Objektschutzregiment der Luftwaffe und die anderen erkunden das Gebiet und schaffen Einsatzvoraussetzungen für den Ernstfall.“
Er zeigte auf die vielen kleinen, braunen Vögel. „Die Infanterie, das Jägerbataillon. Drossel n und Sperlinge und Spechte und ein paar andere Vögel.“
Viktor nickte und war überfordert.
„D as ist alles, was wir in der kurzen Zeit zusammenstellen konnten. Aber das Mandat läuft und andere Truppenteile mobilisieren sich schon. Die Reservisten wurden fast alle eingezogen. Falls du also in den nächsten Tagen viele andere Vögel hier siehst, erschreck dich nicht. Sie tun dir nichts. Sie bewachen nur das Gebiet und passen auf dich auf.“
Viktor nickte.
Cristobal flog wieder zum Bett, setzte sich hin und seufzte.
„Ich bin so müde“, sagte er. „Das waren so anstrengende Tage, es sind 52 Stunden her, dass ich das letzte Mal geschlafen habe. Ein Kondor hat mich nach Abramskaya gebracht und dort ist es so kalt. Sooo schrecklich ka lt, ich bin da fast gestorben!“ Cristobals Schultern sackten ein und er starrte die Bettdecke an.
„Was hast du dort gemacht?“
„Ich musste zu den Kaiserpinguinen. Sie wollten, dass ich persönlich vorspreche und Meldung erstatte. Und dann haben wir Cahuc freigeschaltet und uns um die letzten Vorbereitungen gekümmert.“ Cristobal seufzte wieder. „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal etwas gegessen habe. Auf dem Flug hin und zurück hatte ich Spezialausbildung und gar keine Pausen. Wir haben nur ein wenig abgepacktes Essen bekommen. Hast du was zu essen?“
Viktor lief in die Küche und kam mit einem Honigglas zurück. Er schaute Cristobal zu, wie er gierig den Honig aß , und dachte über alles nach, aber er konnte nicht richtig nachdenken, weil er nicht wusste, worüber er nachdenken sollte.
Dann wollte Cristobal spazieren gehen, und als Viktor fragte, ob es sicher sei, nach draußen zu gehen, sagte Cristobal: „Deine Nachbarschaft ist momentan der am besten abgesicherte Ort der ganzen Stadt!“
„Darf ich mich in deine Brusttasche setzten?“, fragte Cristobal dann, als Viktor seine Jacke anzog. „Ich bin so müde und mir ist sooo kalt.“
Sie gingen spazieren, Cristobal wickelte sich in Viktors Brusttasche in ein Taschentuch ein und schaute mit dem Kopf nach draußen, während sie die Azorenstraße hochgingen.
„Guck mal“, sagte er und zeigte nach oben. Die großen Greifvögel umkreisten sie und folgten ihnen. Die Bäume und die Gebüsche um sie herum raschelten und diverse Vögel flogen lautlos von Baumkrone zu Baumkrone.
Sie bogen in die Quercusstraße ein und schauten sich einen großen Rhododendron an. „Das ist soooo hübsch, nicht?“, sagte Cristobal sehnsüchtig. Viktor nickte. „Aber wir dürfen sie nicht essen, sie sind giftig“, ergänzte Cristobal. „Auch Narzissen. Und Primeln. Und Hyazinthen. Und Veilchen.“ Er seufzte. „So viele schöne Blumen sind giftig, das ist so schade.“
Sie
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