Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

gleich da! Du musst zum Berg, da ist eine Höhle. Wir müssen da rein!“
    Viktor dachte, er würde zusammenbrechen, aber er kroch weiter. Ab und zu schaute er nach draußen, um sicherzugehen, dass sie die Richtung beibehielten.
    Bald spürte er harten Fels unter seinen Händen und Knien, und merkte, wie scharfe kleine Steine in seine Hände schnitten und sich durch den Stoff in seiner Hose bohrten.
    Er stand auf und ging weiter. Der Wind war etwas schwächer hier, abgeschwächt durch den kleinen Berg, der wie ein Vorhang wirkte. Er sah die Öffnung im Fels, erkannte sie durch die dunklere Färbung, die sich vom Weiß abhob.
    „Geh rein!“, rief Cristobal , als sie die Höhle erreichten, kroch aus dem Pullover heraus und flog in den Felsen hinein. Viktor folgte ihm. Der Wind war am Höhleneingang noch stark, im Inneren schwächte er jedoch ab, und noch etwas tiefer drinnen war es dann fast windstill.
    Viktor brach auf dem Boden zusammen. Er presste die Fäuste gegen die Augen, krümmte sich, zog die Knie an die Brust und fing an zu schluchzen.
    Cristobal stellte sich auf dem Boden neben Viktors Kopf und legte seine kleinen Flügeln um ihn.
    „Ich will nach Hause!“, rief Viktor zwischen zwei Heulkrämpfen. „Ich hasse es hier! Ich will nach Hause!“
    Cristobal sagte nichts und wartete, bis Viktor sich beruhigt hatte.
    Als der Heulkrampf zu Ende war, blieb Viktor eine Weile am Boden liegen, starrte die Felswand an und schniefte.
    „Alles in Ordnung, Viktor?“, fragte Cristobal.
    Viktor setzte sich auf, schlug mit den Händen auf den Boden, zuckte kurz zusammen, als es weh tat, und schrie dann: „Nein! Ich will nach Hause! Ich hasse es hier!“ Er schniefte wieder und sagte dann leise: „Ich mag es nicht hier. Es ist so schrecklich. Ich war noch nie irgendwo, wo es so schrecklich ist. Ich will wieder nach Hause.“ Seine Stimme brach ab und er fing wieder an zu weinen.
    „Viktor! Nein. Heute ist es hier sehr windig. Das ist nicht immer so. Es ist nicht immer so furchtbar. Heute ist es nur der Wind. Die Winde sind hier immer ganz stark, aber sie kommen nicht oft vor. Keine Sorge.“
    „Ich will nicht!“ Viktor schlug wieder auf den Boden.
    „Viktor! Hör zu. Cahuc ist sehr wichtig. Du musst immer wissen, dass es diesen Ort gibt, und dass du hier her kommen kannst, wenn du fliehen musst. Vielleicht wirst du Cahuc niemals brauchen. Das würde mich sehr freuen für dich. Aber für denn Fall, dass irgendwann etwas passiert und du verschwinden musst, dann gibt es keinen besseren und sichereren Ort für dich, als diesen hier. Hier findet dich niemand. Niemand! Nur wir wissen, wo er liegt. Nur wir und du. Außerdem würden Reptilien hier niemals überleben. Sie ertragen die Kälte nicht und sterben sofort. Hier bist du so sicher wie sonst nirgendwo auf der Welt. Verstehst du mich?“
    Viktor wischte sich mit seinem Pulloverärmel über die Nase.
    „Wirklich, Viktor. Glaub mir. Heute ist es nur ausnahmsweise so windig. Es ist nicht immer so. Wenn hier die Sonne scheint, dann ist es ganz erträglich. Und wenn es mal windig ist, dann musst du nur so schnell wie möglich in diese Höhle hier kommen. Das ist Hammerfest IV. So heißt der Berg.“
    Viktor blickte um sich.
    Es war eine kleine Höhle, so klein, dass die Rückwand und das Ende der Höhle mit bloßem Auge zu erkennen waren. Die Höhle war vielleicht so groß wie der Konferenzraum, in dem er seine Hausaufgaben mit Marco machte.
    „Warum ist es nicht kalt?“, fragte Viktor.
    „Was meinst du? Es ist schrecklich kalt!“, antwortete Cristobal.
    „Ich habe im Lexikon gelesen, dass die Antarktis der kälteste Ort auf dem Planeten ist.“
    „Ist er auch!“
    Viktor blickte auf sich herunter. „Ich habe meinen Pullover an , den ich heute Nachmittag zu Hause anhatte. Und mir ist nicht kalt. Nur ein bisschen.“
    Cristobal schaute ihn an und dachte nach.
    „Ich weiß nicht.“
    „Es fühlt sich nicht an wie der kälteste Ort auf der Welt.“
    Cristobal zuckte mit den Schultern. „Mir ist kalt. Sehr kalt!“
    „Mir ist auch kalt. Aber wenn ich im Winter in Hedera Helix nur mit diesem Pullover rausgehe, dann ist mir auch dort kalt. Und Hedera Helix ist nicht in der Antarktis.“
    „Nein. Hedera Helix ist nicht in der Antarktis“, sagte Cristobal.
    Viktor verstand das nicht.
    „Was mache ich hier?“, fragte er.
    „Hab ich doch gesagt, du versteckst dich hier.“
    „Warum?“
    „Für den Fall, dass etwas Schlimmes passiert“
    „Was ist