Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Flügel in eine bestimmte Richtung, dann wurde er vom Wind weggeweht. Er kam in ein paar Sekunden wieder zurück, kämpfte hart gegen den Wind, schlug angestrengt mit seinen Flügeln und schrie erneut: „Steh auf!“ Seine Stimme hörte sich an, als ob sie aus ganz weiter Ferne kommen würde. Dann kam die Stimme plötzlich von überall. Dann hörte Viktor ihn gar nicht mehr, obwohl er sehen konnte, dass Cristobal etwas sagte. Es war, als ob der Wind Ping-Pong mit den Wörtern spielte. Als ob die Wörter Konfetti waren und der Wind sie willkürlich durcheinanderwirbelte.
„Bitte steh auf, Viktor! Bitte! Wir müssen zur Höhle! Steh auf und folge mir! Jetzt! “
Viktor drückte sich mit seinen Armen vom Boden auf und merkte wie seine Finger in etwas weichem versanken. Als er auf den Boden schaute, sah er Schnee.
Er schloss die Augen, wartete , bis das Brennen nachließ, wischte sich die Tränen von den Augen und stand auf.
Er ging ein paar Schritte in Richtung Cristobal, der ihm wieder etwas Unhörbares zurief. Und rutschte dann aus und landete mit dem Gesicht im Schnee.
Aus den kleinen Nadeln wurde ein riesiger Hammer, der sich so anfühlte, als ob er Viktors Gesicht mit harten, berennenden Hieben bearbeitete.
Er drückte sich hoch, stand auf und hörte, wie ihm Cristobal ins Ohr schrie: „Vorsichtig! Geh ganz vorsichtig. Es ist rutschig. Folge mir ganz langsam. Langsam! “
Er machte kleine vorsichtige Schritte und folgte Cristobal, der gegen den W ind ankämpfend langsam vorwärtsflog. Ab und zu erfasste ihn eine Windböe, die ihn weit wegfegte, aber Cristobal kehrte immer wieder zurück und drückte sich mit aller Kraft durch die Luft.
Viktor setzte einen Fuß vor de n anderen, vergewisserte sich, dass der eine Fuß stabil auf dem gefrorenen Schnee auflag, bevor er den anderen Fuß hob und ihn nach vorne setzte.
Viktor schloss alle paar Sekunden die Augen und blieb stehen, ging erst dann weiter , als das Brennen nachließ, er sich die Tränen aus den Augen wischte, und sich vergewisserte, dass er Cristobal folgte.
Es war schwierig zu atmen. Der Wind hatte so lch eine immense Stärke, dass es auf Mund und Nase auftraf und das Einatmen verhinderte. Er blockierte die Nasenlöcher und verstopfte die Lungen. Viktor dachte, dass er ersticken würde. Ihm wurde schwindelig, aber dann zog er sich seinen Pullover über Nase und Mund, und es wurde etwas einfacher zu atmen.
Er schloss wieder die Augen und rieb sich die Augenlider, stolperte dann wieder und landete hart mit dem Knie auf de m hartgefrorenen Boden. Er krümmte sich und schrie, hörte sich aber selbst nicht schreien, der Wind erfasste seinen Schrei und schleuderte ihn weg.
Cristobal flatterte neben seinem Ohr und rief etwas, war dann wieder weg, und Viktor sah ihn am Boden in einiger Entfernung liegen. Der Kolibri rappelte sich wieder auf, kam schwerfällig mit schneeverkrusteten Flügeln auf Viktor zugeflogen.
Viktor erhob sich erneut und kroch auf allen vieren Cristobal hinterher. Er sah einen kleinen Berg in einiger Entfernung, zumindest vermutete er, dass es ein Berg war. Inmitten des weißen Bodens, des weißen Himmels und der weißen Luft zeichnete sich eine Kontur ab, die wie ein großer Felsen aussah.
Er senkte den Kopf, schloss die Augen und kroch weiter. Sein Pullover rutschte herunter und der Wind peitschte ihm gegen Nase und Mund wie ein Stein, der ihm ins Gesicht geschleudert wurde.
Er krümmte sich und zog sich den Pulloverhalsausschnitt ganz über das Gesicht, atmete ein und rieb sich die Augen. Dann fing er an zu weinen.
Er hörte Cristobal etwas rufen, zog den Pullover von seinen Augen runter und schaute hoch, musste aber den Kopf wieder senken und die Augen schließen , weil es sich anfühlte, als ob seine Pupillen in Feuer ausbrechen würden.
Cristobal zeigte auf eine kleine dunkle Öffnung im Fels. Viktor nickte und kroch weiter.
Zu seiner Li nken wurde eine Kontur sichtbar. Es war ein verdorrter Baum, dessen schwarzgesprenkelte weißen Äste wie Knochen hart nach oben ragten und sich im Wind bogen.
„Viktor! Nur noch ein kleines Stück, wir sind gleich da!“, schrie Cristobal. „Kann ich unter dein Pullover? Bitte?!“
Viktor hob seinen Pullover an und Cristobal flog darunter. Viktor steckte seinen Kopf wieder in den Halsausschnitt und sah, wie Cristobal sich an seinem Unterhemd klammerte.
„Oh Viktor, oh mein Gott, ich sterbe!“, schrie Cristobal.
Viktor brach in Tränen aus.
„Viktor! Nicht weinen, wir sind
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